Aufregung um bunte Treppe in Istanbul:Kein Ende des Regenbogens

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Istanbul soll schöner werden, findet ein Rentner, und bemalt eine Treppe. Die Verwaltung fürchtet eine Protest-Aktion von Homosexuellen und lässt die bunten Stufen mit grauer Farbe überstreichen. Doch die Bürger wehren sich.

Von Tobias Dorfer

Wenn Hüseyin Çetinel durch Istanbul geht, sieht er viel Grau: Graue Steinwände, graue Straßen, graue Geländer und vor allem jede Menge grauer Treppen. Hüseyin Çetinel, ein pensionierter Ingenieur, wünscht sich mehr Farbe in seiner Stadt. Kurzerhand griff er vor einigen Tagen zum Pinsel und malte drei Stufen an. Passanten sahen die bunte Treppe im Stadtteil Beyoğlu und nickten anerkennend.

Hüseyin Çetinel fasste einen Plan: Schnell trommelte er drei Freunde zusammen, investierte 1500 Lira (560 Euro) in 40 Kilo Farbe, dann strichen sie zusammen die gesamte Treppe an. Als das Quartett fertig war, leuchteten 200 Stufen in allen Farben des Regenbogens. Er wolle "seine Umgebung verschönern", sagte Hüseyin Çetinel der Zeitung Hürriyet Daily News.

Was er nicht wissen konnte: Die bunten Stufen sollten für jede Menge Aufregung sorgen.

Eine bunte Treppe als Protest-Symbol? Die Verwaltung von Istanbul war besorgt. (Foto: AFP)

Es ist eine heikle Angelegenheit, das Stadtbild von Istanbul zu verändern, vor allem derzeit, und selbst im Kleinen. Die Proteste gegen die Neugestaltung des Gezi-Parks, die sich im Juni zu einer nationalen Krise ausweiteten, sind noch in den Köpfen von Bewohnern und Politikern in Istanbul.

Und so griff die Verwaltung durch. Zwei Tage nachdem Hüseyin Çetinel und seine Freunde ihre Arbeit beendet hatten, überstrichen städtische Angestellte die bunten Stufen mit grauer Farbe. Wie Hürriyet Daily News berichtet, fürchteten die Kommunalpolitiker offenbar, die bunten Stufen seien das Werk von Aktivisten der seit den Gezi-Protesten erstarkten Schwulen- und Lesbenszene.

Schnell verselbstständigte sich die Geschichte. Im Internet formierte sich heftiger Widerstand gegen die Entscheidung der Stadt. "Diren!", die Parole der Gezi-Proteste, wurde aufgewärmt. Twitter-Hashtags wie #direnmerdiven (LeisteWiderstandTreppe) und # gökkuşağı (Regenbogen) wurden durchs Netz gezwitschert. Doch die verärgerten Twitter-Nutzer artikulierten ihren Ärger nicht nur verbal. Für den vergangenen Samstagnachmittag verabredeten sich wütende Aktivisten an der grau überstrichenen Treppe. Sie wollten die Stufen wieder bunt anstreichen. Innerhalb weniger Tage wurde aus einer bunten Treppe im Istanbuler Stadtteil Beyoğlu ein Symbol für autoritär empfundene Politik.

Schon im Frühsommer, als die Proteste am Taksim-Platz ihren Höhepunkt erreichten, waren die Gegner des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan durch kreativen Protest aufgefallen. Ende Juli hatten zwei Demonstranten im Gezi-Park eine öffentliche Hochzeitsparty organisiert. Die türkische Presse feierte das Paar als "die Liebesgeschichte des Aufstandes". Zu Ikonen des Widerstands wurden auch Aktivisten wie der Performance-Künstler Erdem Gündüz, der als "Standing Man" tausende Menschen zum stummen Protest gegen die Regierung antrieb. Noch immer wird jede Bewegung in der Gegend um Taksim-Platz und Gezi-Park von den Regierenden genau beobachtet. Am Sonntag erst, dem Weltfriedenstag, verhinderten Polizisten eine Menschenkette.

Die Regenbogen-Treppe jedoch wurde auch ohne derartige Aktionen gerettet. Denn inzwischen war dem Bezirksbürgermeister aufgefallen, dass die Verwaltung möglicherweise etwas vorschnell reagiert hat. In der Nacht zum Samstag, noch bevor die Demonstranten mit Pinsel und Farbe anrücken wollten, schickte Misbah Ahmet Demircan, ein Parteifreund Erdogans, seine Arbeiter mit einem neuen Auftrag los: Sie sollten die Treppe wieder bunt anmalen.

Über Twitter hatte Demircan schon am Tag zuvor versucht, die wütenden Aktivisten mit warmen Worten zu beruhigen. Hüseyin Çetinel habe leider den Fehler gemacht, vor dem Streichen der Stufen nicht mit den Anwohnern und den Behörden zu sprechen, so der Bürgermeister. Nach Protesten aus der Nachbarschaft hätten die städtischen Arbeiter reagieren müssen.

Nun allerdings ist auch Demircan ein großer Freund der bunten Stufen geworden. Auf Twitter kündigte er eine Abstimmung an mit dem Ziel, alle Treppen der Umgebung bunt anzustreichen. "Ich werde mit 'ja' stimmen und hoffe, die Anwohner werden es mir gleichtun", versprach Demircan auf Twitter - und fügte hinzu: "Die Ära der bunten Stufen wird in Beyoğlu beginnen."

Viele Istanbuler haben den Bewohnern des Stadtteils Beyoğlu die Entscheidung bereits abgenommen. Denn mittlerweile haben Menschen in der ganzen Stadt Stufen und Straßen bunt angemalt ( hier finden Sie weitere Fotos mit Regenbogen-Treppen).

Bunte Treppen: Hüseyin Çetinel wird zum Vorbild für andere Menschen in Istanbul. (Foto: AFP)
© SZ vom 04.09.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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