Süddeutsche Zeitung

Auf dem Pfad des Heiligen Jakobus nach Santiago de Compostela:"Musst früher loslaufen, sonst haut dich die Sonne um"

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Vier Tage auf dem Jakobsweg - vier Tage Hitze, Staub und brennende Füße. Warum jedes Jahr Tausende die Strapazen auf sich nehmen. Ein Selbstversuch von Matthias Drobinski

León, im Juli - Roter Staub weht durch die Hitze, sammelt sich am schweißnassen Hemd, kriecht in die Nase. Was soll das - allein am Rand der Nationalstraße 120 zu laufen, vorbei an den flimmernden Blechwürfeln des Industriegebiets von Léon in Nordspanien, auf schmelzendem Asphalt? Lastwagen mit Anhänger poltern vorbei; manchmal hupt ein Fahrer und reckt den Daumen in die Höhe. Wahrscheinlich denkt er trotzdem: Spinner.

Das also ist der Weg, den seit tausend Jahren die Pilger Europas ziehen: nach Santiago de Compostela, zum Grab des Heiligen Jakobus, das der Legende zufolge dort sein soll. Die stammt aus dem Jahre 813. Damals hatten die Mauren fast ganz Spanien besetzt, und als die Christen unter Anrufung des Apostels einmal die Muslime besiegten, da hielten sie den Mauromuerto, den Maurentöter, für wahrhaft wundertätig.

So begann die Pilgerfahrt, und im Mittelalter, wo vor lauter Kreuzzügen und Pilgerfahrten kaum noch jemand zu Hause anzutreffen war, wurde der Jakobsweg zur Route Europas. Für alle, die Vergebung erflehten, Gnade erhofften, ihr Heil in der Flucht suchten: Heilige und Huren, Mächtige und Bankrotteure. Sie litten, siechten, starben. Oder kamen zurück, rein von Schuld.

Heute glaubt kaum einer mehr, dass der Weg in den Himmel über Santiago führt. Und trotzdem pilgern so viele Menschen wie seit Jahrhunderten nicht mehr. Dieses Jahr fällt der Jakobstag am 25. Juli auf einen Sonntag. Dann ist Heiliges Jahr in Santiago, Hunderttausende erwartet man in der Kathedrale am westlichen Ende Europas. Die Leute wallfahren wieder. Also: den Rucksack gepackt, die Wanderschuhe entstaubt, den credencial de peregrino besorgt, den Pilgerpass. A Santiago! Ein Selbstversuch in vier Tagen.

1. Tag: Über den Rucksack

Ein Rucksack verändert den Menschen. Jeder Besitz wird zur Last; der Träger wird zum Käfer, immer in Furcht, auf den Rücken zu fallen. Andererseits verursacht ein Rucksack auch Helferreflexe. "A Santiago?" ruft der alte Mann, zieht den Wanderer an einer Gabelung auf den rechten Weg, klopft ihm auf die Schulter: Ein bisschen Heil scheint haften zu bleiben, wenn man einen Pilger anfasst.

"Ist das Ihr Rucksack?" fragt die Frau in der Kirche "Santuario Virgen del Camino". "Kommen Sie, ich zeige Ihnen alles." Der reiche Altarraum stammt aus dem Jahr 1502, das Kirchenschiff von 1961 ist ein moderner Raum. Jeden Tag ist die alte Frau hier, jetzt, in der Pilgersaison. Und wenn einer mit Rucksack kommt, zeigt sie ihm die Kirche.

Wobei die Einsamkeit zunehmend relativ wird. Eine Schulklasse aus Madrid zwängt sich zwischen die Einzelpilger; kichernde Mädchen und pickelige Jungs mit Kochgeschirr am Rucksack auf der Suche nach Freiheit, Flirt und Abenteuer. Erstaunlich, wenn man bedenkt, dass der Weg vor 20 Jahren so gut wie vergessen war.

Meditationsübungen à la Coelho

Am Aufschwung hat der brasilianische Schriftsteller Paulo Coelho seinen Anteil, der 1986 nach Santiago wanderte und darüber einen esoterisch gefärbten Reisebericht schrieb, wie er durch den "Weg der kleinen Leute" das Schwert einer Bruderschaft errang; es soll Pilger geben, die mit dem Buch in der Hand die Atem-, Konzentrations- und Meditationsübungen machen, die der Meister dort niedergeschrieben hat.

Die Heiligen Jahre 1993 und 1999 brachten weitere Schübe, Freiwillige markierten Abzweigungen, renovierten Herbergen; inzwischen haben die ersten privaten Quartiere eröffnet, Pensionen werben mit dem Luxus eines Einzelzimmers, ungezählt sind die Bars und Restaurants, die jenes Pilgermenü anbieten, bei dem man nie weiß, ob es so fettig wird, dass es den Pilger in die Fressnarkose stößt.

Von hinten klicken zwei Wanderstöcke. Der erste Mitpilger: Armin aus der Steiermark, 26 Jahre alt, ein schmaler Junge mit roten Bäckchen. In Le Puy ist er losgelaufen, in Frankreich, tausend Kilometer und einen Monat Fußmarsch entfernt: durchs einsame und verregnete Frankreich, über die baumlos flache Meseta, an den Ein- und Ausfallstraßen der großen Städte entlang. "Hast grad angefangen?", fragt er.

"Musst früher loslaufen, sonst haut dich die Sonne um." Dann zieht er weiter, er hat es eilig. Seine Wanderschuhe waren aufgerissen, der Schuster brauchte ewig, seine Mitpilger - ein Junge aus den USA, eine Frau aus Australien - sind ohne ihn weiter: "Buen camino, Guten Weg!" Und weg ist er.

Er muss die Hilflosigkeit des Pilgerneulings bemerkt haben, denn vor der nächsten Bar wartet er, sagt grinsend "Siesta" und bietet beim Mittagsbier eine kleine Einführung ins Pilgern. Der richtige Pilger ist alleine losgelaufen, läuft aber nicht allein. Er findet und verliert Begleiter, schließt sich zur lockeren Gruppe zusammen und marschiert dann wieder alleine. Er geht früh los, um der Hitze zu entkommen, und abends, im Refugio, der Pilgerherberge, trifft er alle wieder. Aha.

Und warum das alles? Fürs Himmelreich? "Ich bin aus der Kirche ausgetreten", sagt Armin. Der Weg aber reizte ihn, und dann kam die Gelegenheit: Er hatte den Job gekündigt, zwei neue standen zur Auswahl. Und er machte, was er immer gemacht hat, wenn eine Entscheidung ansteht: Er hat den Rucksack gepackt und ist losgelaufen.

Die Gegend hat jede Menge Geschichte aufgesogen und ist nun voller Legenden. Eine doppelhöckrige Steinbrücke aus der Römerzeit liegt da, die Puente de Orbigo. Hier kämpfte 1434 Suero de Quinones 30 Tage gegen alle Ritter, die über die Brücke wollten, der Liebe wegen, heißt es, wobei am Ende bloß eine Männerwallfahrt zum Jakobsgrab stand.

Jenseits der Brücke liegt das Refugio, im Innenhof plätschert eine elektrisch betriebene Quelle, eine alte Couch lädt zum Niedersinken ein, und wie herrlich ruht es sich auf den quietschenden Eisenliegen. Jugendliche des Christopherus-Werks der Caritas in Breisingen haben 1991 bis 1993 das Haus renoviert.

Überhaupt: Eine der Verkehrssprachen ist deutsch. Natürlich sind die meisten Pilger Spanier, die laufen aber meist in Gruppen; die Einzelwanderer dagegen kommen häufig aus Deutschland, Österreich, der Schweiz. Auch deshalb sprießen hierzulande die Jakobus-Vereinigungen, deren mittlerweile mehr als 3000 Mitglieder die alten Pilgerwege beschildern und erwandern.

2. Tag: Vom Laufen

Erste Sonnenstrahlen malen die Berge rot; auf den Kirchtürmen stehen Störche in ihren Nestern. Sechs Uhr morgens, jetzt heißt es marschieren, bevor es heiß wird: Nach Lourdes wallfahren die Kranken, zum heiligen Jakob die Gesunden, die mit den strammen Waden. Das Gehen ist das Geheimnis des Jakobswegs. Man entschleunigt das Leben, beginnt, von Schritt zu Schritt zu denken. Und irgendwann beginnen Mantras durch den Kopf zu tröpfeln, Kinderreime, Lieder im Takt der Wanderschuhe. Alles Grüblerische löst sich auf, wichtig wird der nächste Wegweiser. Willkommen in der Welt und Wirklichkeit der Wanderer.

Juan lebt seit Bilbao in dieser Welt, 24 ist er, hat gerade sein Betriebswirtschaftsstudium beendet, weiß alles über Real Madrid und mehr noch über die Radrennfahrer des baskischen Euskatel-Teams. Im Herbst wird die Arbeit losgehen, und bevor er einsteigt in die Karriere, möchte er noch einmal aussteigen, "das ist vielleicht die letzte Gelegenheit".

Wenn man läuft, ist man ein anderer Mensch, sagt er, "und wenn man das mal gemacht hat, wird man auch im Beruf nicht alles auf einmal wollen". Der Weg als Lebensübung. Armin taucht auf, er hat einen Ort weiter übernachtet, dann aber verschlafen, und nun hat er es wieder eilig. "Man muss irgendwann einfach laufen", erzählt er. Als er auf dem Weg hierher zwei Tage Pause machte wegen seiner Schuhe, hat er den ersten Tag in León noch genossen, den zweiten ist er dann in der Stadt herumgetigert, sehnsüchtig nach der Einsamkeit.

Altgediente Wallfahrer grummeln inzwischen, reden von Kommerzialisierung und erzählen mit leuchtenden Augen von jenen Zeiten, als sie durch die Menschenleere liefen und unterm Sternenhimmel schlafen mussten. Andererseits: Die Pilgerei ernährt wieder die Leute in einer Gegend, in der über Jahre hinweg die Jungen der Arbeit nachzogen, die Häuser verfielen.

Zum Beispiel in Catalina Somoza, wo der Wirt in der Bar Camino Real sich einen schönen neuen Kühlschrank fürs deutsche Bier gekauft hat und den Gästen Schinkenscheiben zum Probieren gibt, bevor er den Schinken auf riesige Bocadillos legt. Und dann auf einmal eine kleine Flöte unter der Theke hervorholt, eine wilde Melodie zum Pochen der Trommeln aus der Stereoanlage pfeift. Das Erbe der Araber hat sich gehalten in dieser steinigen Gegend, und es ist eine Ironie der Geschichte, dass der Weg des Maurentöters dieses Erbe bewahren hilft.

Das Drama der Nächstenliebe

Vier Uhr nachmittags, nach 40 Kilometern mit zwölfeinhalb Kilo Gepäck bei 35 Grad Hitze, der letzte steile Anstieg zum Refugio Gaucelmo, benannt nach einem Pilgervater aus dem 12. Jahrhundert. Hier geben die englischen Freunde des Jakobswegs dem Ankommenden das Gefühl, der schlimmste Notfall zu sein, der dieses Jahr durch den steinernen Torbogen gewankt ist. "Oh my God!!" ruft eine rundliche, kleine Frau, "John - someone needs help!"

Und John springt auf und holt ein Glas Wasser, derweil die kleine Frau sich den verschwitzten Rucksack schnappt und in den Schlafsaal schleppt. Sieht man wirklich so grausig aus? Der nächste Wanderer kommt: "Oh my God!!", wieder rennt John nach Wasser. Das Drama der Nächstenliebe, täglich inszeniert zur Ehre der Pilger.

Wer nach dem Christlichen des Weges sucht, der muss mit Jan Catherine Kimmel sprechen, der Frau, die so hingebungsvoll "Oh my God" ruft. Jedes Jahr hilft sie zwei Wochen im Refugio, bemitleidet Ankommende, putzt Toiletten, richtet das kostenlose Pilgerfrühstück. "Ich bin Christin", sagt sie, "da ist das selbstverständlich."

Keine Katholikin, weshalb sie dem Gedanken des Pilgerablasses reserviert gegenübersteht, aber der Weg führt ohnehin längst über die Grenzen der Konfessionen hinweg. Vor fünf Jahren ist sie selber gelaufen, "und was ich erfahren habe, möchte ich zurückgeben", sagt sie: "Ich möchte den Leuten ein Stück vom Paradies geben." Wobei es im Paradies durchaus streng zugeht: Raucher müssen vor die Tür, ab elf wird jedes laute Wort unerbittlich freundlich unterbunden.

3. Tag: Von der Sinnsuche

Neben der Herberge gibt es ein kleines Kloster, um 19 Uhr singen die Mönche das Abendgebet. Die tausend Jahre alte Kirche ist gut gefüllt, drei Benediktiner singen lateinische Psalmen im Wechselgesang. Vielen ist das fremd, sie bleiben trotzdem. Das Kloster ist eine Gründung der Missionsbenediktiner von St. Ottilien, und Juan Antonio, der 38-jährige Prior, sagt: "20 bis 30 Prozent der Leute auf dem Pilgerweg sind aktive Christen - dies ist eine missionarische Situation." Aber "irgendwann später stellt sich jeder Pilger die Sinnfrage", sagt er. Und dann passiert es, dass einer vor der Klosterpforte steht und ein paar Tage mit den Mönchen leben und beten möchte.

Die Abende in den Herbergen gehören dem Gemeinschaftsleben. Rotwein fließt, Eigenbrötler werden nie richtige Pilger werden. Man ist in dieser eigenen Welt auf eine eigene Art vertraut geworden mit der Pilgerexistenz der Mitwanderer, die sich bei manchem sehr vom sonstigen Sein unterscheiden dürfte. Armin, Juan, Maria aus Nord-Holland, die sich, nach all der Rennerei für die Familie, ein Jahr Wandern geschenkt hat.

Die Deutschen versuchen, Patrick aus Frankreich das Jodeln beizubringen; Erzählungen machen die Runde: vom Geschäftsmann aus Barcelona, der mit nichts als dem Handy beschwert dahinschritt; plagten ihn Hunger oder Durst, rief er den Versorgungswagen.

Viele Pilger-Geschichten sind Geschichten vom Anfang und vom Ende: Ignatz aus Köln leitete ein Haus der Caritas für schwierige Jugendliche, mit denen wanderte er immer ein Stück auf dem Jakobsweg. Am Tag seiner Pensionierung ist er vor die Haustür getreten, um den gesamten Weg zu laufen, ein Abschied vom Beruf, eine vorläufige Lebensbilanz.

Jetzt, auf der Reise, meditiert er manchmal beim Laufen, abends forscht er, des Spanischen wie des Englischen weitgehend unkundig, mit Händen und Füßen die Leute nach dem Woher und Wohin aus. Oder Barbara, die Schauspielerin aus München, die sich in Los Angeles verfahren hatte und in eine finstere Gegend geraten war. Ein Freund hatte ihr den Weg falsch beschrieben, und als Entschuldigung schenkte er ihr das Santiago-Buch der Schauspielerin Shirley MacLaine, was Barbara als Zeichen sah.

Langsamer gehen. Die 40 Kilometer nach Rabanal de Camino haben an den Füßen brennende Stellen hinterlassen. Und dann soll man nicht rennen, erst recht nicht, wo es hinauf geht auf 1500 Meter zum Cruz de Ferro, dem berühmten Eisenkreuz, einem Wahrzeichen des Weges. Die kleine Straße ist schön, das Eisenkreuz dagegen eine Enttäuschung. Seit Jahrhunderten legt jeder, der vorbeikommt, einen Stein an den Sockel des Kreuzes, sodass ein fast zehn Meter hoher Hügel entstanden ist. Nur schmutzen auch Pilger, wenn sie in Mengen auftreten, und so mischt sich unter die Gebete und Votivtäfelchen der Müll; der Lärm einer Straßenbaustelle treibt die Wanderer weiter.

"Geh nach Santiago, das wird dir helfen"

Das heißt, einer sitzt da in verschmutzter Wanderhose: Adrian aus Bern, 30 Jahre alt, ein kleiner Hund legt den Kopf in seinen Schoß. Das Tier ist ihm gerade zugelaufen, Geld hat er keins mehr. Bis gestern war er auf einem Hippie-Festival, da gab es immer was zu Essen, Trinken, Rauchen. Jetzt hofft er auf die Milde der Jakobspilger, für ihn und seinen neuen Begleiter, von dem er nicht weiß, ob er ihn je über eine Grenze bringt. Na und? Der Tag heute zählt, in der Schweiz war er arbeitslos, dort würde ihm zudem der Alkohol auflauern. "Geh nach Santiago, das wird dir helfen", hat ihm seine Freundin geraten, als sie ihn verließ. Er ist gegangen, bis jetzt ist es schön, was will er mehr?

Der Heilige Jakob hat Platz für Gläubige, Sinnsucher, Freaks. Kurz hinter dem Eisenkreuz steht die Hütte von Tomás. Der war ein erfolgreicher Geschäftsmann, als er sich 1993 entschied, mit mehr als 50 Jahren sein Leben umzukrempeln: Er verließ Familie und Geld, blieb in der Einsamkeit, ohne Strom, mit Brunnen und Plumpsklo, mit Hunden und einer wachsamen Gans. Er sieht sich in der Tradition der Tempelritter, jenes geheimnisumwitterten Ordens, der die Pilger beschützte, nebenher aber allerlei Geheimkult trieb, weshalb Papst Clemens V. ihn 1307 verbot.

Wobei es Tomàs ergeht, wie es so vielen Eremiten erging: Er ist populär geworden. Inzwischen bestaunen 20000 Besucher im Jahr seine Einsamkeit. Heute hat er in Barcelona zu tun; er ist zum Reisenden seines Ideals geworden. In der Klause bewirten seine Jünger in stiller Freundlichkeit die Pilger, beten für den Frieden, legen Traktate über Marienerscheinungen aus.

4. Tag: Vom Schmerz

Blasen sind fies, aber kommunikationsfördernd. Den ganzen Tag über kann man sie wachsen spüren, am Abend bohrt sich der Schmerz vom Fuß ins Hirn. Blasen? Sofort reißt sich ein halbes Dutzend Pilger die Socken von den Füßen: Schau mal! Große Flecken neuer Haut an Zehen, Sohlen, Fersen. Dann Tipps zur Blasenbehandlung.

Abkleben, Aufstechen, einen Faden durchziehen, damit sich kein neues Wasser bildet. Hilft alles nichts, der letzte Tag ist der Tag des Schmerzes. Eine schmale Frau tippelt vorbei, mindestens 70 Jahre alt, einen kleinen Rucksack auf dem Rücken. Da steckt bestimmt eine interessante Geschichte hinter, doch ach, sie ist schneller als der Blasengeplagte, verschwindet. Eine Übung in Demut: Gehe in kleinen Schritten, lass dich überholen von Leuten jenseits der Pensionsgrenze, lerne, dass der Schmerz seit jeher zur Pilgerschaft gehört.

"Mach mal Pause"

Einer wartet, Bernhard, der lustige Typ mit der runden Brille und dem graumelierten Vollbart. "Mach mal Pause", sagt er. Aus der Frankfurter Gegend kommt er, ein bisschen erzählt er über dies und das, und dann sagt er: "Ich habe Krebs". Ein Jahr haben ihm die Ärzte gegeben, das war vor vier Jahren, er hat die Krankheit ignoriert, sich in die Arbeit gestürzt. Nun ist er pensioniert, und der wuchernde Feind hat sich wieder gemeldet, da hat er sich einem Naturheiler anvertraut.

"Geh den Jakobsweg", hat der ihm gesagt, "den Weg, der vom Tod ins Leben führt." Er solle nichts vorbereiten, keinen Reiseführer kaufen. Seitdem geht es ihm gut. Und so wird er gegen den Krebs laufen, nach Santiago, weiter nach Finisterre, dem westlichsten Punkt Europas, und von dort zurück, immer weiter. Vielleicht hilft es, sagt er, "und wenn nicht, habe ich eine schöne Zeit gehabt".

Irgendwann ist Villfranca del Bierzo da, das "kleine Santiago". Hier gibt es die Puerta del Perdon, die Pforte der Vergebung. Lahme und Sieche, die es wenigstens bis hierhin schafften, erhielten den Ablass. Das ist das Schöne an der katholischen Kirche: Sie lässt ihren Fußkranken eine Hintertür; ein schönes Ende für den Selbstversuch. Eine letzte Nacht bei Arias Jato, der eine alte Pilgerherberge restauriert hat.

Madonnen grüßen aus Mauerwinkeln, die Fenstermosaike zeigen Kelche und Kreuze. "Er ist ein Heiler", flüstert Bernhard. Jato sieht hinter der Betonmischmaschine allerdings wenig geheimnisvoll aus, und die "Licht- und Feuerzeremonie", die er für den Abend ankündigt, ist ein Trester-Umtrunk. Am Morgen dann zur Pforte der Vergebung und zum Autobus, während die Kette der Pilger weiterzieht. Nach Santiago, wo sie die Statue des Heiligen umarmen werden - ob sie fromm sind oder nicht.

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Quelle:
SZ vom 23.7.2004
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