Attentatsopfer Gabrielle Giffords:Zur Lage der Nation

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Sie telefoniert ins All und siegt beim "Tic-Tac-Toe": Amerika beobachtet die sagenhaften Fortschritte von Attentatsopfer Gabby Giffords. Für manche ist die Politikerin ein Symbol für den Wunsch nach nationaler Einheit geworden.

Christian Wernicke, Washington

Sie steht auf, jeden Morgen. Jeden Tag wagt sie, gestützt auf einen Gehwagen, ein paar Schritte mehr. Und sie singt: Das Kinderlied vom kleinen, funkelnden Stern hat Gabrielle "Gabby" Giffords vorige Woche auswendig gelernt, genauso wie die schöne Schnulze, die schon Doris Day und Marlene Dietrich anstimmten: "I can't give you anything but love, baby!" Diese Zeile will die schwer verletzte Patientin ihrem Mann Mark Kelly widmen. Der nämlich feiert nächste Woche Geburtstag, und obendrein fliegt der Nasa-Astronaut in zwei Monaten ins All.

Ihre schnelle Genesung fasziniert Amerika: Die Abgeordnete Gabrielle Giffords im März 2010 (Foto: AP)

Die Leidens- und Gesundungsgeschichte der Gabby Giffords fasziniert ganz Amerika. Täglich dringen aus dem Krankenzimmer der demokratischen Politikerin, die am 8. Januar in Tucson (Arizona) von dem offenbar geistig verwirrten Attentäter Jared Loughner per Kopfschuss niedergestreckt worden war, neue und allzeit positive Nachrichten nach draußen. Vorige Woche war es die Neuigkeit, dass die derzeit prominenteste Patientin der Nation ihr erstes Wort über die Lippen gebracht und energisch nach "Toast!" verlangt hatte. Zu Beginn dieser Woche berichtete die New York Times, Giffords habe mit einer Krankenschwester eifrig "Tic-Tac-Toe" ("Drei gewinnt") gespielt - und gewonnen.

Wunsch nach nationaler Einheit

Die Tat des 22-jährigen Loughner hatte in den USA eine heftige Debatte über die rauen Auseinandersetzungen zwischen Demokraten und Republikanern ausgelöst. Bei der Rede von US-Präsident Barack Obama zur Lage der Nation im Kongress in Washington Ende Januar hatten sich Republikaner und Demokraten entgegen der Gepflogenheiten demonstrativ in die Reihen des jeweiligen politischen Gegners gesetzt.

Die Kongressabgeordnete Giffords ist für manche zu einem Symbol für den Wunsch nach mehr nationaler Einheit geworden. Ihr hatte die Tat, bei der sechs Menschen erschossen und 13 verwundet worden waren, gegolten. Unter den Opfern befand sich auch ein Mädchen, das genau am 11. September 2001, dem Tag der Terroranschläge von New York, geboren worden war. An Giffords Gesundheitszustand, so hat man den Eindruck, hängt weitaus mehr als das persönliche Schicksal einer gewöhnlichen Politikerin.

Ihr Ehemann Mark Kelly, amerikanischer Astronaut, sucht eine Metapher aus seinem Gewerbe, um die Nation zu beruhigen. Seine Frau erhole sich "mit Lichtgeschwindigkeit", beteuert er. Ihr Lerntempo sei so rasant, dass der Sprachtherapeut sich beklage, seine Patientin antworte auf Fragen, die er kaum habe stellen können. Vor wenigen Tagen habe man vor Giffords zum Beispiel drei Karten mit den Gesichtern von drei Präsidenten ausgebreitet. George W. Bush sei von ihr sofort identifiziert gewesen.

Euphorische Ferndiagnosen

Während Giffords Rehabilitationsklinik in Houston dazu offiziell nicht Stellung nimmt, wagen Trauma-Spezialisten und Hirnchirurgen anderer Krankenhäuser - bedrängt von Amerikas Medien - geradezu euphorische Ferndiagnosen. "Offenbar hat die Schusswunde ihr Sprachzentrum nicht irreversibel beschädigt", urteilt beispielsweise David Langer, Professor für Neurochirurgie am Universitätshospital in Manhasset in New York.

Am 19. April wird Mark Kelly in Cape Canaveral als Kommandant der Raumfähre Endeavour vom Boden abheben. Es ist die letzte Reise des Spaceshuttle und zugleich Kellys letzte Exkursion in die Schwerelosigkeit. "Ich kenne meine Frau, ich weiß, dass sie dies so wollte", hat Kelly neulich gesagt. Das bringt ihm auch Kritik ein. Doch der Astronaut plant sogar, seine Frau zum Start nach Florida zu verfrachten: "Ich weiß, sie möchte dabei sein." Die Abgeordnete ist Sprecherin der Demokraten für das gesamte US-Weltraumprogramm.

Vom Krankenbett in Houston telefonierte sie vorige Woche ins All: "Mir geht's gut", hat sie Scott Kelly gesagt, ihrem Schwager, der sich derzeit an Bord der Internationalen Raumstation ISS befindet. Die Raumfahrt und Gabby Giffords - beide sind wichtig für das amerikanische Selbstwertgefühl.

Das sieht man auch daran, dass der bisherige Senator von Arizona, Jon Kyl, ein Republikaner, soeben verkündet hat, er trete nicht mehr an, weshalb die Demokraten nun gern Gabby Giffords aufstellen wollen. Die Überlebende von Tucson hätte bei den Wählern große Chancen. Aber vorerst muss sie Monate zäher Rehabilitation durchstehen und das Votum ihrer Ärzte abwarten. Gegen den Attentäter wird derweil ein Gerichtsverfahren vorbereitet. Ihm droht die Todesstrafe.

© SZ vom 16.02.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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