Süddeutsche Zeitung

Attendorn im Sauerland:Mysteriöse Briefe wiesen früh auf gefangenes Mädchen hin

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Hätte das jahrelang eingesperrte Kind früher befreit werden können? Hinweise wurden offenbar nicht richtig verfolgt. Nun laufen die Ermittlungen - auch gegen das Jugendamt.

Fast sein ganzes Leben lang soll ein Mädchen von seiner Mutter und seinen Großeltern in deren Haus in Attendorn im Sauerland eingesperrt worden sein, sieben verlorene Jahre, und noch immer steht die Frage im Raum: Warum hat so lange niemand etwas bemerkt? Nun wird bekannt, dass Hinweise offenbar nicht richtig verfolgt wurden.

Das Jugendamt hat nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur (dpa) im Herbst 2020 erstmals einen Brief erhalten, der auf das heute achtjährige Kind hinwies. Allerdings war dieser offenbar ziemlich mysteriös: Der Text war aus ausgeschnittenen Buchstaben zusammengesetzt und aus Sicht des Mädchens geschrieben. Es folgten weitere anonyme Schreiben, aber erst zwei Jahre später, im September 2022, wurde das Kind befreit.

Der zuständige Kreis Olpe hatte vor wenigen Tagen bereits Defizite eingeräumt. Interne Unterlagen der Ermittler verdeutlichen nach dpa-Informationen, was damit gemeint war: So hatte die Krankenkasse dem Jugendamt nach dem ersten Brief auf Anfrage mitgeteilt, dass die Mutter - die mit ihrer Tochter angeblich 2015 nach Italien gezogen war - noch Beiträge in Deutschland zahle. Weitere Recherchen des Jugendamts unter anderem bei Kinderärzten ergaben nichts, weshalb der Brief offenbar ad acta gelegt wurde.

Sechs Wochen später folgte laut den bisherigen Ermittlungen ein zweiter anonymer Brief, diesmal angeblich von Freunden, Bekannten und Nachbarn verfasst. Im Herbst 2021 gab es eine weitere Meldung beim Jugendamt mit konkreten Hinweisen. Erstmals wurde nach dpa-Informationen nun die Polizei vom Amt informiert. Die Mitarbeiterin berichtete demnach der Polizei von einem "ominösen" Hinweis auf ein gefangenes Mädchen - und fragte, ob man das Haus durchsuchen könne. Die Polizei fragte im Gegenzug, ob das Jugendamt denn schon vor Ort gewesen sei. Antwort: Nein. Die Polizei bat also das Jugendamt, erst mal selbst zu recherchieren. Danach habe sich das Amt - so die Polizei - nicht mehr gemeldet.

Tatsächlich schauten nach Aktenlage am 15. Oktober 2021 zwei Mitarbeiter unangekündigt bei der besagten Adresse vorbei. Die Großeltern des Mädchens, die offiziell dort wohnten, öffneten die Tür, ließen das Jugendamt aber nicht herein. Tochter und Enkelin seien auch nicht da. Die Mitarbeiter zogen wieder ab. Kurz nach Weihnachten 2021 gab es durch einen technischen Defekt einen kleinen Brand in dem Haus, heißt es in den Unterlagen der Ermittler. Als die Retter eintrafen, standen die Großeltern vor der Tür. Von dem Mädchen und seiner Mutter war nichts zu sehen. Ob sie sich in dem verrauchten Haus versteckten, ist unklar.

Das Treppensteigen fiel dem jahrelang eingesperrten Mädchen schwer

Erst im Juni 2022, fast zwei Jahre nach dem ersten Brief, kam Bewegung in den Fall: Ein Ehepaar meldete sich beim Jugendamt, das über Umwege von dem Mädchen erfahren hatte und konkrete Hinweise gab. Das Jugendamt fragte nun in Italien nach, ob das Mädchen mit der Mutter wirklich dort lebe. Acht Wochen später die Antwort: Nein. Erst jetzt kontaktierte das Jugendamt laut den Ermittlungen wieder die Polizei. Die rief mehrere Zeugen an, fuhr bei dem Haus der Großeltern vorbei, wurde nicht hereingelassen - und stürmte das Haus wenige Tage später mit richterlichem Beschluss.

Das war am 23. September. Die Achtjährige schlief da mit ihrer Mutter in einem gemeinsamen Zimmer. Sie wirkte laut den Ermittlern normal, ordentlich angezogen und konnte sich gut ausdrücken. Nur das Treppensteigen fiel ihr schwer. Ärzte checkten das Mädchen durch - und fanden keine weiteren Auffälligkeiten.

Die Ermittler gehen davon aus, dass die Achtjährige rund sieben Jahre das Haus nicht verlassen durfte. Ermittelt wird inzwischen gegen die Mutter und die Großeltern. Aber auch das Jugendamt ist im Visier der Staatsanwaltschaft - wegen des Anfangsverdachts der Freiheitsberaubung und Körperverletzung im Amt durch Unterlassen. Was bisher nicht bekannt war: Bereits eine Woche nach der Befreiung des Mädchens rückte die Staatsanwaltschaft beim Jugendamt ein - und beschlagnahmte einige Akten.

An diesem Donnerstag beschäftigten sich auch der Familien- und der Innenausschuss des Düsseldorfer Landtags mit dem Fall. Von der Opposition kamen kritische Fragen: Wieso habe das Jugendamt die Behauptung der Mutter, weggezogen zu sein, nicht früher überprüft? Wieso könne die Mutter trotz Sorgerechts auch des Vaters einfach mit dem Kind das Land verlassen und das Jugendamt interessiere es nicht? Wie könne es sein, dass Polizei und Jugendamtsmitarbeiter vor dem Haus standen, in dem das Kind gefangen gehalten wurde, aber unverrichteter Dinge wieder abzogen? Für die SPD-Fraktion steht eine Konsequenz bereits fest: "Die Jugendämter benötigen eine Fachaufsicht."

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