Attendorn:Sieben verlorene Jahre

Attendorn: Das Haus, in dem das Mädchen fast sieben Jahre lang gefangen gehalten worden sein soll, liegt in einer gutbürgerlichen Gegend im sauerländischen Attendorn.

Das Haus, in dem das Mädchen fast sieben Jahre lang gefangen gehalten worden sein soll, liegt in einer gutbürgerlichen Gegend im sauerländischen Attendorn.

(Foto: Markus Klümper/dpa)

Ein Mädchen soll fast sein ganzes Leben lang von seiner Mutter und seinen Großeltern in deren Haus in Attendorn eingesperrt worden sein. Die Frage, die es nun zu klären gilt: Warum hat so lange niemand etwas bemerkt?

Von Jana Stegemann

Attendorn ist eigentlich für zwei Dinge bekannt: den Bigge-Stausee, ein beliebtes Ausflugsziel, und die Atta-Höhle, die als eine der größten und schönsten Tropfsteinhöhlen Deutschlands gilt.

Doch seit einigen Tagen ist der 25 000-Einwohner-Ort im Sauerland auch Chiffre für einen erschütternden Kriminalfall: Ein achtjähriges Mädchen soll von seiner Mutter und den Großeltern fast sein ganzes Leben in einem Haus in Attendorn gefangen gehalten worden sein. Das Kind im Grundschulalter, das nie eine Schule von innen gesehen hat, war Ende September aus dem Haus der Familie befreit und in eine Pflegefamilie gebracht worden. Das zuständige Jugendamt geht davon aus, dass das Kind das Gebäude nicht habe verlassen dürfen, seit es eineinhalb Jahre alt war. "Sie wurde ganz langsam die Treppe heruntergeführt. Ein Polizist hat sie gestützt", hatte eine Nachbarin dem Spiegel erzählt. Dem Kind soll es "den Umständen entsprechend gut gehen", teilte die Staatsanwaltschaft Siegen mit.

Doch was heißt das schon angesichts von sieben verlorenen Jahren, einer geraubten Kindheit? Das Mädchen habe noch nie zuvor eine Wiese oder einen Wald gesehen, andere Kinder getroffen oder in einem Auto gesessen, soll es den Ärzten, die es untersucht haben, erzählt haben. Wo genau es sich im Haus aufhalten und wie es sein bisheriges Leben verbringen musste, wurde nicht öffentlich bekannt.

Anzeichen von Bewegungsmangel

Das Kind könne lesen und rechnen. Es gebe allerdings "Einschränkungen im Bewegungsapparat", die sich zum Beispiel beim Treppensteigen zeigten und wohl auf Bewegungsmangel zurückzuführen seien, sagte der zuständige Oberstaatsanwalt Patrick Baron von Grotthuss. Hinweise auf sexuellen Missbrauch, Misshandlung und Unterernährung gebe es bisher nicht. Der Fachbereichsleiter des Jugendamts im Kreis Olpe, Michael Färber, sagte der Deutschen Presse-Agentur, dass im Mittelpunkt nun die Frage stehe: "Was will das Kind?"

Gegen die Mutter und die Großeltern wird wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen und Freiheitsberaubung ermittelt, weil sie dem Mädchen fast sieben Jahre lang nicht ermöglicht hatten, "am Leben teilzunehmen", wie es die Staatsanwaltschaft formuliert.

Noch sind viele Fragen offen: Wie konnten drei Erwachsene ein kleines Mädchen jahrelang unbemerkt in einem Haus mitten in einem gutbürgerlichen Wohngebiet wegsperren? War der Auslöser wirklich ein Sorgerechtsstreit? Welche Rolle spielte das Jugendamt?

Angeblicher Umzug nach Italien

Als das Mädchen 2013 geboren wird, sind seine Eltern kein Paar mehr. 2015 klagt die Mutter auf das alleinige Sorgerecht und zieht laut einer Registereintragung des Einwohnermeldeamtes mit ihrem Kind nach Kalabrien um. Wahrscheinlich, um dem Vater den Kontakt zum Kind erheblich zu erschweren. Doch in Italien, woher der Großvater des Mädchens stammt, lebten die beiden wohl nie, sondern blieben in Attendorn. Warum der Vater sein Kind, das vermeintlich sieben Jahre in Italien lebte, nie besuchte, obwohl er und die Mutter laut Gerichtsentscheid von 2016 beide das Sorgerecht behielten? Der WAZ sagte die Schwester des Vaters, er habe regelmäßig Geschenke nach Italien geschickt - die seien jedoch ungeöffnet zurückgekommen. Wenn die Mutter des Mädchens in Attendorn gesehen wurde, sei erzählt worden, sie befände sich auf Kurzurlaub bei ihren Eltern.

Die Ermittlungen stehen noch am Anfang. Es geht dabei auch um die Frage, wer eine Mitschuld daran trägt, dass das Kind so lange eingesperrt werden konnte. Behörden, vielleicht Nachbarn? Und sicher alle, die von dem Mädchen wussten - und doch nichts taten.

Attendorn: Zweimal klingelten Mitarbeiter des Jugendamtes an der Haustür - und wurden von den Großeltern abgewimmelt.

Zweimal klingelten Mitarbeiter des Jugendamtes an der Haustür - und wurden von den Großeltern abgewimmelt.

(Foto: Markus Klümper/dpa)

Das Jugendamt hatte seit Oktober 2020 einzelne anonyme Hinweise auf die Familie bekommen, Mitarbeiter klingelten daraufhin zweimal an der Haustür in Attendorn - und wurden abgewimmelt. In einer Mitteilung des Jugendamtes steht, dass Vorwürfe einer möglichen Kindeswohlgefährdung "nicht konkretisiert werden konnten. Es lagen keine Beweise vor, dass das Kind nicht in Italien lebt". Befreit werden konnte das Mädchen aber erst durch Hinweise, die ein Ehepaar im Juli 2022 machte. Vom Kreis Olpe heißt es, das Paar habe "keine direkte Verbindung zu den Familien", dennoch hätten sie in einem Hinweis den begründeten Verdacht geäußert, dass das Kind gefangen gehalten werde.

Die Staatsanwaltschaft Siegen prüft ein mögliches Fehlverhalten des Jugendamtes. In der kommenden Woche wird sich der Familienausschuss des NRW-Landtags mit dem Fall beschäftigen.

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