Attendorn:Eingesperrtes Kind: Auch gegen Jugendamt wird nun ermittelt

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In der Stadt Attendorn in Nordrhein-Westfalen soll ein Mädchen in seinem Zuhause festgehalten worden sein. (Foto: Franz-Peter Tschauner/dpa)

Im Sauerland soll ein achtjähriges Mädchen von Mutter und Großeltern jahrelang daheim eingesperrt worden sein. Das Jugendamt hatte anonyme Hinweise.

Kein Kindergarten, keine Schule, keine anderen Kinder: Ein acht Jahre altes Mädchen soll nahezu sein gesamtes Leben lang in einem Haus im Sauerland festgehalten worden sein. Die Staatsanwaltschaft in Siegen ermittelt gegen die Mutter und die Großeltern - und seit Montag auch gegen das Jugendamt.

Das Mädchen hatte offenbar knapp sieben Jahre lang in dem Haus der Großeltern im Ort Attendorn gelebt, ohne es verlassen zu dürfen. Die Mutter hatte sich im Sommer 2015 dort abgemeldet und als neuen Wohnort eine Adresse in Italien angegeben, schilderte der Fachbereichsleiter des Jugendamtes im Kreis Olpe am Montag den Fall. Offenbar habe die Mutter vermeiden wollen, dass ihre Tochter Umgang mit dem Vater habe, die Eltern seien getrennt. Der Vater wandte sich ans Familiengericht, das 2016 das Sorgerecht für beide Elternteile bekräftigte.

Vor zwei Jahren und vor einem Jahr seien dann zwei anonyme Hinweise eingegangen, hieß es vom Jugendamt auf Anfrage der Deutschen Presseagentur. "Wir sind dem sofort nachgegangen, aber es gab keine stichhaltigen Hinweise oder konkreten Anhaltspunkte, dass sich das Mädchen dort aufhielt." Man habe daher keine rechtliche Möglichkeit gehabt, das Haus der Großeltern zu betreten - das sei auch die damalige Einschätzung der Polizei gewesen.

Erst als sich im Juni 2022 ein Ehepaar ans Jugendamt wandte, habe man mit Hilfe von Bundesjustizministerium und italienischen Behörden herausgefunden, dass Mutter und Tochter nie in Italien gelebt hatten. Bei einer Hausdurchsuchung am 23. September stieß man schließlich auf das Kind. Der Hinweis kam laut WDR aus dem familiären Umfeld. Nach Darstellung des Kreises Olpe hatte das Ehepaar dagegen keine direkte Verbindung zur Familie, sondern Hinweise von Freunden weitergegeben, die sicher seien, das Kind werde im Haus der Großeltern gefangen gehalten.

Die Ermittlungen in dem Fall erstrecken sich nun laut Staatsanwaltschaft auch auf das Jugendamt. "Wir müssen auch beleuchten, ob das Jugendamt alles Notwendige getan hat, um den Fall aufzudecken", sagte der Siegener Oberstaatsanwalt Patrick Baron von Grotthuss. Es "stellt sich zwangsläufig die Frage, ob das Kind nicht früher hätte gefunden werden können". Auch der NRW-Landtag wird sich bald mit den Vorgängen befassen: Die SPD-Opposition will das Agieren der Behörden durchleuchten.

Selbst die Nachbarn wussten nicht, dass Mutter und Kind im Haus lebten

Mutter und Großeltern schweigen bislang. Daher tappe man noch im Dunkeln, "was da möglicherweise in den Köpfen der Menschen vorgegangen ist", sagte der Oberstaatsanwalt weiter. Die Zeugenvernehmungen im Umfeld seien auch noch nicht abgeschlossen. Man versuche "irgendwie die Motivlage" zu beleuchten.

Mutter und Großeltern werden Freiheitsberaubung und Misshandlung von Schutzbefohlenen vorgeworfen. Attendorn liege auf dem Land, so der Oberstaatsanwalt. "Man denkt ja, die Sozialkontrolle funktioniert da noch." Aber selbst die Nachbarn hätten nicht gewusst, dass Mutter und Kind im Haus gewesen seien. Dass das Mädchen dort so lange Jahre nicht gesehen wurde, weist laut Oberstaatsanwalt darauf hin, dass die Beschuldigten "sehr geheim und sehr sorgfältig" vorgegangen seien.

Das Mädchen sei nun in einer Pflegefamilie untergebracht. Hinweise auf eine körperliche Misshandlung oder Unterernährung gebe es momentan nicht. "Allerdings haben wir die Situation, dass es die Außenwelt nicht gesehen hat", hieß es von der Staatsanwaltschaft.

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