Süddeutsche Zeitung

Massenpanik bei US-Festival:"Du hast Leben zerstört"

Zehn Menschen sind bei einer Massenpanik beim Festival "Astroworld" in Houston gestorben. Nun hagelt es Klagen gegen Rapper und Festival-Gründer Travis Scott. Aber wird die Polizei unvoreingenommen gegen ihn ermitteln?

Von Jürgen Schmieder, Los Angeles

Es ist nicht lange her, da weckte der Name Astroworld bei den Leuten in Houston im US-Bundesstaat Texas höchstens die Erinnerung an eine gute alte Zeit, die längst vorbei ist. An einen Vergnügungspark im Südwesten der Stadt mit legendären Achterbahnen, 2005 schloss er die Tore. Und an den Astrodome auf der anderen Seite des Highways, das erste überdachte Stadion der Welt, das heute nicht viel mehr ist als eine Ruine.

Und jetzt? Klingt Astroworld plötzlich nach Katastrophe. Nach Massenpanik, nach tragischen Todesfällen. Zehn Menschen sind gestorben am 5. November beim gleichnamigen Musik-Festival, das in Houston jährlich seit 2018 in der Nähe des früheren Vergnügungsparks veranstaltet wird. Mehr als 300 Menschen sind verletzt worden - am Sonntagabend starb der erst neun Jahre alte Ezra B., der zuvor zehn Tage lang im künstlichen Koma gelegen hatte.

Und natürlich stellt sich jetzt die Frage nach der Schuld. 100 Klagen sind bereits eingereicht worden, die Zahl könnte noch auf 300 wachsen, heißt es. Auf einer Webseite haben Besucher die Möglichkeit, sich einer Sammelklage anzuschließen. Die Klagen richten sich gegen den Konzertveranstalter Live Nation und den Rapper Travis Scott, der das Festival vor drei Jahren ins Leben gerufen hat. Und der zusammen mit dem Rapper Drake auf der Bühne stand, als das Unglück passierte.

Scotts Konzerte sind wild und anarchisch

"Die Panik ist direkt vor ihren Augen entstanden. Sie haben trotzdem weitergemacht, obwohl das medizinische Personal nur schwer zu Verletzten und Ohnmächtigen gelangen konnte", sagt etwa Niaara Goods, die angibt, im Publikum verletzt worden zu sein, und deshalb Schadenersatz in Höhe von einer Million Dollar fordert. Am Wochenende protestierten Leute vor Travis Scotts Haus, eine Frau hielt ein Schild hoch mit der Aufschrift: "Du hast Leben zerstört. Du verdienst es, pleitezugehen."

Travis Scott ist bekannt dafür, dass es auf seinen Konzerten wild und anarchisch zugeht. Er nennt das "Raging", wenn die Leute gepflegt ausrasten, wenn sie ein Mosh Pit bilden, sich also vor der Bühne anrempeln und auch gegenseitig über den Haufen rennen. Es ist Teil seiner Show, in der Netflix-Doku "Travis Scott: Look Mom I Can Fly" sagt ein Besucher, dass im Chaos der Zauber der Konzerte liege: "Du fällst hin, und dann hilft dir jemand auf die Beine. Es ist krass, wie die Musik einer Person jeden zur Familie werden lässt." Neu ist das freilich nicht, auch in anderen Musik-Genres wie Ska oder Punk sind solche Konzertgewohnheiten tief verankert.

Was in Houston zur Massenpanik führte, ist noch unklar, genau wie die Frage, ob Scott während des Auftritts überhaupt etwas davon mitbekommen hat. Bekannt ist: Erst 40 Minuten nachdem die Polizei von Houston das Festival zum sogenannten "Mass Casualty Event" erklärt hatte, also als Veranstaltung mit mehreren Toten, ging Scott von der Bühne. Schnell wurden danach Vorwürfe laut, er habe das Publikum aufgeheizt und die Show viel zu spät beendet - Vorwürfe, die seine Sprecherin Stephanie Rawlings-Blake, einst Bürgermeisterin von Baltimore, zurückweist: "Es gab einen 59-Seiten-Plan für die Durchführung, und darin steht ganz klar, dass nur zwei Leute die Möglichkeit haben, das Konzert abzubrechen: Produzent und Veranstalter."

Es dürfte lange dauern, bis die Umstände der Panik und damit die Verantwortlichkeiten geklärt sind. Man wird dabei unterscheiden müssen zwischen dem Musiker Travis Scott und dem Unternehmer Travis Scott, der sich und seine Musik bestens vermarkten kann und der tief in Houston verwurzelt ist - und hier wird es kompliziert.

Denn Scott, 30, der mit bürgerlichem Namen Jacques B. Webster heißt, gilt als formidabler Netzwerker. Er ist befreundet mit Polizeichef Troy Finner, seine Mutter Wanda verteilt an Thanksgiving gemeinsam mit Bürgermeister Sylvester Turner Truthähne an Bedürftige. Scott, könnte man sagen, ist so etwas wie ein Stadtheiliger, der aus Astroworld einen Begriff gemacht hat, bei dem die Leute nicht mehr in Nostalgie verfallen, sondern an die Gegenwart denken. Der sich sozial engagiert für Houstons Bewohner. Beim Festival arbeiteten mehr als 500 Polizeibeamte im Dienst, dazu heuerten die Veranstalter 76 Polizisten an, die sich einen Nebenverdienst versprachen. Wie unabhängig also kann die Polizei in diesem Fall ermitteln?

Bislang hat sie jedenfalls weder die Bundesbehörde FBI um Hilfe gebeten noch eine unabhängige Untersuchung eingeleitet - was sich Lina Hidalgo wünscht, oberste Richterin im Bezirk Houston: "Sie will eine objektive Analyse, ob sich diese Tragödie hätte verhindern lassen", sagte ihr Sprecher.

Bekannt ist mittlerweile, dass sich Scott ein paar Stunden vor Festivalbeginn mit Polizeichef Finner getroffen hat; Finner veröffentlichte ein Statement auf Twitter: "Ich habe meine Bedenken geäußert, dass ich in meinen 31 Jahren als Polizist noch nie so viele Herausforderungen erlebt habe." Offenbar haben sich aber Beamte vor Ort gegen einen Abbruch des Festivals ausgesprochen - aus Furcht vor noch mehr Panik. "Bei mehr als 50 000 Leuten kannst du nicht einfach zusperren", sagte Finner: "Ich denke, dieser Aspekt ist ziemlich gut gelaufen."

Die laufenden Ermittlungen dürften der Grund sein, warum sich Scott bislang kaum geäußert hat. Er sei keinesfalls verantwortlich für das, was passiert ist, nur das sagte seine Sprecherin Rawlings-Blake. "Er will aber verantwortlich sein für eine Lösung."

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