Der Schwur auf die Fahne ist im Leben argentinischer Schülerinnen und Schüler der vierten Klasse ein feierlicher Moment. Eltern und Verwandte kommen an diesem wichtigen Tag im Juni in die Schule, um dabei zuzusehen, wie die Kinder einen Eid ablegen auf die blau-weiße Nationalflagge und die mit ihr verbundenen Werte: Freiheit, Toleranz, Gerechtigkeit. In Berisso aber, einer kleinen Stadt in der Provinz Buenos Aires, gab es dieses Jahr Buhrufe statt Applaus. Der Grund: Eine lokale Politikerin hatte den Text des Schwurs etwas abgewandelt, dort, wo normalerweise der Buchstabe O steht, war bei manchen Wörtern nun ein E, aus argentinos wurde so auf einmal argentines.
Grammatikalisch ist das nicht korrekt, politisch aber in gewissen Kreisen durchaus. Denn das E ist im Spanischen eine Form der geschlechtergerechten Sprache. Über sie wird auch in Deutschland gerade heftig gestritten: Arbeitnehmer*innen, Autofahrende, Sozialhilfe beziehende Person - muss das wirklich sein? Behörden, Ministerien und viele Unternehmen meinen: auf jeden Fall. Sie erlassen Leitfäden, um alle Geschlechtsidentitäten anzusprechen. Die Bild-Zeitung dagegen fordert: "Schluss mit dem Gender-Unfug!", und das Landgericht Ingolstadt musste sich zuletzt sogar mit einer Klage eines VW-Angestellten befassen, der seine Persönlichkeitsrechte verletzt sah, weil Kollegen von der Tochterfirma Audi in Mails von "Mitarbeiter_innen" schrieben.
Kurz: Die Stimmung ist gereizt, in Argentinien aber längst in offenen Streit umgeschlagen. Eltern buhen Lokalpolitiker aus, wenn diese es wagen, den Text des Fahneneids auf Inklusion zu trimmen. Und in der Stadt Buenos Aires ist es Lehrerinnen und Lehrern seit ein paar Wochen sogar bei Androhung von Strafe untersagt, geschlechtergerechte Sprache zu verwenden, wenn diese der Grammatik widerspricht.
"Vollkommener Quatsch"
Die Maßnahme hat durchaus Lob und Beifall ausgelöst. Der Bürgermeister der Stadt, Horacio Rodríguez Larreta, begründete sie damit, dass viele Schülerinnen und Schüler nach der Pandemie Lernprobleme hätten: "Diese zeigen sich vor allem im Spracherwerb." Darum, glaubt der konservative Politiker, sei es wichtig, die Kinder und Jugendlichen nicht zu verwirren mit Konstruktionen wie les argentines, argentinxs oder argentin@s.
"Vollkommener Quatsch", sagt dagegen Victoria Liascovich. "Das Bildungssystem in Argentinien hat Hunderte Probleme, geschlechtergerechte Sprache aber ist ganz sicher keines." 17 Jahre alt ist Liascovich, sie besucht das Colegio Nacional de Buenos Aires, eine der renommiertesten öffentlichen Schulen ganz Argentiniens, an der sie auch die Schülersprecherin ist. Natürlich gebe es auch bei ihr Klassenkameraden und Mitschülerinnen, die sich an gegenderten Wörtern stören, ebenso wie Lehrkräfte. Niemand aber würde ja dazu gezwungen, sie zu benutzen, im Gegenteil: "Die meisten machen das freiwillig."
Das ist wahrscheinlich der größte Unterschied von Argentinien zu Deutschland: Während geschlechtergerechte Sprache hierzulande oft etwas Steifes, Behördenhaftes hat, ist es in Argentinien unter Jugendlichen in den großen Städten selbstverständlich bis cool, von les amigues zu sprechen, statt los amigos zu sagen. Hipsterläden verkaufen T-Shirts, auf denen die Personalpronomen inklusiv durchdekliniert werden, und Influencer begrüßen im Netz ihr Millionenpublikum fröhlich mit "hola todXs".
Dass inklusive Sprache in Argentinien heute auch Bestandteil der Jugendkultur ist, hat vor allem mit der riesigen feministischen Bewegung zu tun, die es seit ein paar Jahren in dem Land gibt. Nach einer Reihe von brutalen Frauenmorden gingen von 2015 an Hunderttausende junge Argentinierinnen unter dem Motto "Ni una menos" auf die Straße, auf Deutsch in etwa "Nicht ein Opfer mehr". Aus den Protesten gegen Gewalt gegen Frauen entwickelte sich die Forderung nach Legalisierung von Abtreibung und mehr Gleichberechtigung, im Job, im Alltag, aber auch in der Sprache. Wieso, fragten viele, heißt es las chicas, wenn drei Mädchen zusammenstehen, aber los chicos, sobald ein Junge dazukommt?
Viele Fortschritte in einem eigentlich sehr konservativen Land
Unterstützung kam von Argentiniens links-peronistischer Regierung. Ihre Partei, die Frente de Todos, benutzt in ihrem Logo plakativ eine Sonne statt des letzten (und damit maskulinen) O. Argentinien hat feste Quoten für trans Menschen in öffentlichen Ämtern eingeführt, 2020 die Abtreibung legalisiert, und wer möchte, kann sich heute in seinem Personalweis ein non-binäres Geschlecht eintragen lassen.
Doch bei aller inklusiven und feministischen Politik ist Argentinien in weiten Teilen auch immer noch ein sehr konservatives Land, das zu allem Überfluss politisch auch noch tief gespalten ist. Das Verbot der geschlechtergerechten Sprache in der Stadt Buenos Aires habe darum auch weniger mit der Sorge um die Lernerfolge von Kindern und Jugendlichen zu tun, glaubt Victoria Liascovich, als vielmehr mit einem politischen Manöver. "Bürgermeister Larreta ist auf Stimmenfang", sagt die Schülersprecherin. Nächstes Jahr sind in Argentinien Wahlen, und es ist ein offenes Geheimnis, dass das Stadtoberhaupt von Buenos Aires gerne als Kandidat antreten würde.
Bei vielen jungen Argentinierinnen und Argentiniern habe er mit dem Verbot der geschlechtergerechten Sprache für Lehrkräfte aber eher Unverständnis ausgelöst, glaubt Liascovich. Ihre Schule ist als eine der wenigen nicht von dem Verbot betroffen, weil sie vom Staat abhängig ist, nicht von der Stadt. In den Gängen und Fluren hängen also weiter Plakate, auf denen die Vokale an den Wortendungen durch inklusive @, E oder X ersetzt wurden.
Ihr und den meisten ihrer Freunde, sagt Liascovich, sei es aber ohnehin egal, was die Politik sagt, die Grammatik oder auch die altehrwürdige Real Academia Española , die vom fernen Spanien aus über den Sprachgebrauch in der hispanofonen Welt wacht. "Sprache ist doch etwas, das sich immer verändert", sagt sie. Und oft hinkt dann eben nicht nur die Grammatik hinterher, sondern auch Teile der Gesellschaft.