Süddeutsche Zeitung

Anschlagsserie auf Kinder in China:Angriff auf die Schwächsten

Eine Anschlagsserie auf Kinder und Jugendliche erschüttert China. In sechs Wochen sind in Kindergärten und Schulen elf Menschen getötet und etwa 70 weitere verletzt worden.

Henrik Bork, Peking

Eltern in ganz China sorgen sich um ihre Kinder, nachdem eine einzigartige Serie von Gewalttaten das Land heimgesucht hat. Innerhalb von nur sechs Wochen sind bei fünf verschiedenen Attacken in Kindergärten und Schulen elf Menschen getötet und etwa 70 weitere verletzt worden. Das Erziehungsministerium in Peking hat eine Sonderkommission eingesetzt. Ab sofort werden in mehreren Provinzen neue Wachen aufgeboten, die mit Pfefferspray, Schlagstöcken und Tränengas bewaffnet sind. Die Regierung hat auch eine partielle Nachrichtensperre verhängt, damit die schlimmen Geschehnisse nicht die Expo in Shanghai überschatten.

Der jüngste Angriff ereignete sich am Tag der Expo-Eröffnung: Der 45-jährige Bauer Wang Yonglai stürzte sich mit einem Hammer auf eine Vorschulklasse in der Grundschule von Shangzhuang im Kreis Weifang, Provinz Shandong. Anschließend verbrannte er sich an Ort und Stelle selbst, dabei zwei Kinder im Arm haltend. Fünf Kinder wurden verletzt.

Erst einen Tag zuvor hatte ein Mann namens Xu Yuyuan einen Kindergarten in Taixing, Provinz Jiangsu, gestürmt. Er stach mit einem zwanzig Zentimeter langem Messer auf die Kinder und drei Erwachsene ein, bis er endlich überwältigt werden konnte. 28 Kinder wurden verletzt, mindestens fünf von ihnen schwer. Wenige Stunden zuvor war ein 33-jähriger Mann namens Chen Kangbing in einer Grundschule in Leizhou, Provinz Guangdong, Amok gelaufen. Er verletzte 15Kinder und einen Lehrer.

Vor diesen drei Angriffen, allesamt in der vergangenen Woche, hatte ein Mann am 23. März in einer Grundschule in Nanping, Provinz Fujian, acht Kinder und einen Mann erstochen. Und am 11. April starben ein Zweitklässler und eine 81-jährige Frau vor dem Tor einer Grundschule in Hepu, Provinz Guangxi, als der 40-jährige Yang Jiaqin mit einem Gemüsemesser sieben Menschen attackierte.

Schusswaffen sind in China nur sehr schwer erhältlich. Auch deshalb hat es dort bislang keine Schießereien in Schulen gegeben - wie in Deutschland oder den USA. Doch auch die Amokläufe mit Messern und Hammern haben die Chinesen schockiert und eine Debatte über die Gründe ausgelöst. Chinesischen Medienberichten zufolge wollten sich mehrere der Angreifer "an der Gesellschaft rächen", für echte oder vermeintliche Ungerechtigkeiten, die ihnen von Beamten oder Arbeitgebern zugefügt worden waren. Wang Yonglai, der am Freitag mit einem Hammer auf fünf- und sechsjährige Kinder losgegangen ist, hatte erst kürzlich erfahren, dass lokale Beamte sein Haus abreißen werden, weil er keine Genehmigung für den Bau hatte. Er hatte seine gesamten Ersparnisse von 110000 Yuan (11000 Euro) in das Haus gesteckt und war "wild" über den Abrissbefehl, sagten seine Frau und die Schwiegertochter einem Reporter der Nachrichtenagentur Reuters. Auch Xu Yuyuan, der einen Tag zuvor in Taixing 28 Kinder und drei Erwachsene verletzt hat, suchte der chinesischen Agentur Xinhua zufolge "Rache an der Gesellschaft" für private und geschäftliche Probleme. Mehrere Kommentatoren merkten an, dass die Einkommensschere zwischen den Gewinnern der chinesischen Wirtschaftsreformen und den mittellosen Verlieren stark gewachsen sei, und dass es in der streng regierten Volksrepublik kaum Ventile zum "Ablassen von Dampf" gebe.

"Es ist Mode geworden, in Kindergärten und Schulen zu gehen, denn während man dort tötet, trifft man auf den geringsten Widerstand, erzeugt den größten öffentlichen Terror, und so ist dies die effektivste Rache an der Gesellschaft", schreibt der populäre Blogger Han Han im Internet. Schon im Jahr 2004 hatte eine sehr ähnliche Serie von Gewalttaten Chinas Schulen und Kindergärten heimgesucht. Chinas Regierung reagierte mit einer teilweisen Nachrichtensperre, und Erziehungsminister Yang Guiren schob die Schuld auf "gesetzlose" Einzeltäter. Während die Angst vor Nachahmungstätern tatsächlich eine gewisse Behutsamkeit bei der Berichterstattung nahelegt, schien es den Behörden weniger darum als um Schadensbegrenzung für die Expo zu gehen. "Angesichts der Weltausstellung in Shanghai dürfen diese Nachrichten nicht auf der Titelseite erscheinen", wies die Propagandabehörde einem Bericht der Webseite Danwei zufolge das Internetportal Sina an. Chinas Justiz reagiert mit Härte auf solche Vorfälle. Am Mittwoch vergangener Woche - also genau am Tag des Überfalls in Guangdong - wurde bereits der Mann exekutiert, der in Fujian die acht Kinder erstochen hatte. Er hatte sich an "Reichen" und "mächtigen Beamten" in Nanping rächen wollen, hatte Xinhua berichtet.

In mehreren Protesten forderten aufgebrachte Eltern potentielle Attentäter auf, sich künftig andere Opfer für ihre Wut zu suchen als wehrlose Kinder. "Ein Held ist, wer einen korrupten Beamten ersticht, ein Feigling, wer auf Kinder losgeht", stand auf einem Spruchband, das demonstrierende Eltern vor dem Krankenhaus von Taixing in die Luft hielten. "Zur Regierung geht es da vorne rechts ab", steht auf einem anderen Spruchband, das von der Fassade eines Kindergartens baumelt.

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SZ vom 06.05.2010
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