Anschlag in Boston:Was die Bomben-Reste über die Täter verraten

Schießpulver, Eieruhren, Nägel und zwei Töpfe - damit verwandelten die Täter den Boston-Marathon in einen Albtraum. Die simple Machart der Bombe ist die eine Herausforderung für das FBI. Die andere ist der gewaltige Wust an Bildern und Videos. Wie lässt sich darin der entscheidende Hinweis finden?

Von Pascal Paukner und Michael König

Die verdächtige Person steht auf dem Dach, als die Bombe explodiert. Boylston Street, Nummer 755, ein rotes Backsteinhaus. Die Person macht einen Schritt nach vorn, womöglich hält sie sich am Geländer fest. So genau ist das nicht zu erkennen. Überhaupt ist nicht viel zu erkennen. Und doch ist das Foto, geschossen von dem Augenzeugen Dan Lampariello, eines der meist diskutierten auf Twitter.

"Wer ist dieser Typ?", fragt einer. "Das ist die gruseligste Sache, die ich je gesehen habe", schreibt ein anderer. Diverse US-Medien greifen die Geschichte vom "man on the roof" auf. Das FBI habe das Bild vom Mann auf dem Dach in die Ermittlungen aufgenommen, heißt es. Als eine von vielen Aufnahmen. Von sehr, sehr vielen Aufnahmen.

Der Anschlag auf den Marathon in Boston mit drei Toten und mindestens 170 Verletzten ist womöglich der am besten dokumentierte Anschlag der Geschichte. Etwa 500.000 Zuschauer verfolgten den Marathon vor Ort. Etliche Smartphone-Besitzer, Amateurfilmer und professionelle Kamerateams filmten die Läufer, als die zwei Bomben explodierten. Für die Ermittler ist das eine große Chance. Aber eben auch eine Herausforderung.

"Es muss Hunderte, wenn nicht Tausende Fotografien, Videos und andere Beobachtungen geben, die unten an der Ziellinie gemacht wurden", sagt Timothy Alben, der bei der Polizei in Massachusetts die Ermittlungen leitet. Hinzu kommen 600 Überwachungskameras, die in der Nähe des Tatorts angebracht sind. Zeugenbefragung, das funktioniert im digitalen Zeitalter zum Teil wie Crowdsourcing. Die Bevölkerung liefert einen Datenberg, die Ermittler durchwühlen ihn.

"In einem Fall wie Boston wird man keinen Aufwand scheuen, das Bildmaterial komplett zu sichten", sagt Maurizio Tuccillo, der an der Hochschule Luzern zu IT-Forensik forscht. Die Ermittler suchen dabei nicht nur nach verdächtigen Personen, wie womöglich dem Mann auf dem Dach. Sie verschlagworten die Aufnahmen auch, um sie später nach Hinweisen durchforsten zu können. Das spart Zeit und Nerven, denn das größte Problem ist derzeit ohnehin, dass die Behörden gar nicht wissen, wonach sie eigentlich suchen.

Die Technik braucht konkrete Hinweise, um zuverlässig zu arbeiten: Nummernschilder, Hautfarben oder Gesichter werden von moderner Filtersoftware mit einer Wahrscheinlichkeit von 70 bis 80 Prozent korrekt identifiziert. Doch noch hat das FBI keine Verdächtigen bekanntgegeben, nach denen gesucht werden könnte. Bislang hat die Auswertung offenbar nicht den entscheidenden Hinweis geliefert. "Die Bandbreite der Verdächtigen und der Motive bleibt groß", sagt ein Sprecher des FBI. Weshalb sich die Ermittler auf die Spurensuche am Tatort konzentrieren. Eine Suche, die einem Puzzlespiel mit Zehntausenden Teilen gleicht.

"Jede noch so kleine Spur kann auf DNS, Fingerabdrücke oder seine Herkunft hin untersucht werden", sagt Bernd Fuchs, leitender Kriminaldirektor der Polizeidirektion Heidelberg und Chefredakteur des Fachmagazins Kriminalistik. In Boston haben die Ermittler bislang unter anderem Teile von Schnellkochtöpfen, Nägel und Kugellager, sowie Stofffetzen gefunden.

  • Schnellkochtöpfe sind in Ländern wie Afghanistan, Pakistan und Indien seit langem ein bevorzugtes Baumaterial für Bomben. Sie sind leicht und unauffällig zu beschaffen - und Sprengladungen, die darin gezündet werden, entwickeln durch den Druck im Inneren des Topfes eine größere Wucht. So können Terroristen mit einfachen Sprengstoffen eine verheerende Wirkung hervorrufen - in Boston kam offenbar Schießpulver zum Einsatz. Das amerikanische Heimatschutz-Ministerium warnte bereits 2010 davor, Terroristen könnten derart konstruierte improvised explosive devices (IED) auch in Amerika einsetzen. Bei Polizei- oder Grenzkontrollen würden Schnellkochtöpfe häufig übersehen.
  • Nägel und Kugellager werden eingesetzt, um die Opfer besonders schwer zu verletzen. Entsprechende Bauanleitungen kursieren im Internet, etwa in Foren von Rechtsextremen oder im PDF-Magazin Inspire, einer englischsprachigen Propaganda-Postille des Terrornetzwerks al-Qaida. "Bau eine Bombe in der Küche deiner Mutter", heißt es da. Schnellkochtöpfe gefüllt mit Nägeln werden dort als "effektivste Methode" gepriesen. In Boston verletzten sie mehr als 170 Menschen.
  • Als Zünder kam offenbar eine Eieruhr zum Einsatz. Das berichtet die New York Times. Auch das deckt sich mit gängigen Bauanleitungen. Eieruhren oder herkömmliche Wecker werden als Zeitschalter benutzt. Erreicht der Zeiger einen bestimmten Punkt, wird ein Stromkreis geschlossen, der Zünder aktiviert und die Explosion ausgelöst.
  • Die Stofffetzen am Tatort deuten darauf hin, dass die Bomben in schwarzen Nylontaschen versteckt waren. Diese haben den Vorteil, dass sie die Sprengwirkung nicht dämmen. Al-Qaida empfiehlt, alternativ Kartons zu verwenden.

Das Problem für die Ermittler: Alle bekannten Zutaten der Bombe sind im freien Handel erhältlich, man kann sie kaufen, ohne Aufsehen zu erregen. Ihre Hoffnung liegt darin, dass die Überreste mehr von sich preisgeben. Aufgedruckte Seriennummern oder Herstellerangaben könnten etwa zum Produzenten zurückverfolgt werden - und von dort womöglich zum Verkäufer. So berichtet die New York Times, die Töpfe könnten von dem spanischen Küchengerätehersteller Fagor produziert worden sein. Der exportiert jedoch jährlich Zehntausende solcher Töpfe in die USA.

Sollten der oder die Täter nicht den Fehler begangen haben, ihr Material am selben Tag im selben Laden eingekauft zu haben, wird das FBI noch lange mit dem Puzzeln beschäftigt sein. Es sei denn, es kommt doch noch ein entscheidendes Foto, der entscheidende Hinweis aus der Bevölkerung. 2000 solcher Tipps sind bislang eingegangen. Für zielführende Hinweise haben die Bostoner Feuerwehr- und Polizei-Vereinigungen 50.000 Dollar Belohnung versprochen.

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