Anschlag auf Sikh-Gemeinde:Turban heißt Taliban

Noch ist das Motiv des Mannes nicht bekannt, der im US-Bundesstaat Wisconsin sechs Sikhs erschossen hat. Doch der mutmaßllich Täter soll Verbindungen zu rassistischen Gruppen gehabt haben. Das FBI stuft die Taten als terroristisch ein.

Nicolas Richter, Washington

In den ersten Stunden nach der Tat, als noch die Toten und Verletzten gezählt werden, lässt sich das Motiv des Todesschützen bereits erahnen. Warum betritt der Mann mit einer halbautomatischen Waffe einen Sikh-Tempel, in dem die Männer Vollbart und dicke, bunte Turbane tragen, und schießt so lange auf Unschuldige, bis ihn die Polizei tötet?

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Angehörige der Sikh-Gemeinde in Oak Creek im US-Bundesstaat Wisconsin, die einem Attentat zum Opfer fiel.

(Foto: AFP)

Die genaue Antwort ließ auch am Tag danach noch auf sich warten, aber sie dürfte nach Ansicht der meisten Beobachter so grausam wie banal sein: Der Täter schoss auf die Menschen im Tempel, weil sie Vollbart und bunte Turbane trugen.

Der mutmaßliche Mörder heißt laut Polizei Wade Michael Page, 40, und diente von 1992 bis 1998 in der US-Armee. Medien berichteten, er sei wegen wiederholten "Fehlverhaltens" entlassen worden. Zeugen beschreiben ihn als Weißen, an dessen Arm ein Tattoo an den 11. September 2001 erinnere, jenen Tag, an dem islamistische Terroristen einen Massenmord in New York und Washington verübten.

Am Sonntagmorgen suchte Page den Gottesdienst der Sikh-Gemeinde in Oak Creek auf, einem Vorort Milwaukees, der größten Stadt des Staates Wisconsin im Norden der USA. Page schoss wahllos auf die Gläubigen; der Vorsteher der Gemeinde sowie fünf weitere Sikhs verloren ihr Leben. Die Polizei bereitete dem Morden ein Ende, indem sie Page erschoss. Dessen nahegelegene Wohnung wurde durchsucht, Einzelheiten seines Lebenslaufs wurden aber nur allmählich bekannt.

Die Bundespolizei stuft die Tat als terroristisch ein

Die Bundespolizei FBI hat die Ermittlungen an sich gezogen, weil sie Pages Taten als terroristisch einstuft. "Wir überprüfen Verbindungen mit Gruppen, die die Überlegenheit der weißen Rasse predigen", sagte eine Ermittlerin. Page soll Kontakte zu jenen Ideologen der "white supremacy" unterhalten haben, aus deren Sicht die weiße Rasse überlegen ist und gegen andere, angeblich minderwertige Rassen verteidigt werden muss. Außerdem soll er Mitglied einer Neonazi-Band gewesen sein.

Dass ausgerechnet die Sikhs dafür büßen müssen, dass sich ein Weißer von Menschen dunkler Hautfarbe gestört oder bedroht fühlt, mag paradox wirken. Die indischstämmigen Sikhs, Anhänger einer monotheistischen Religion, gelten als sehr friedlich und tolerant; etwa eine halbe Million von ihnen leben in den USA. Die Sikhs haben sich nie gegen den Staat oder die gesellschaftliche Ordnung gewandt.

Doch gerade seit dem 11. September 2001 ist ihnen ihr auffälliges Aussehen immer wieder zur Last, wenn nicht zum Verhängnis geworden: Aus Sicht ungebildeter Amerikaner handelt es sich bei den Sikhs um radikale Muslime. "Viele Menschen sind so ignorant, dass sie den Unterschied zwischen den Religionen nicht kennen", sagte eine Sikh der New York Times, "nur weil sie einen Turban sehen, denken sie, du bist ein Taliban."

Drei von vier Sikhs werden in der Schule schikaniert

So könnte es Gemeinsamkeiten geben zwischen Page und Anders Behring Breivik, der in Norwegen ein Massaker verübte, weil er der Regierung und der Linken unterstellte, vor dem Islam kapituliert zu haben. Unklar ist, ob Page die Sikhs in Oak Creek als Sikhs identifiziert hatte oder ob er sie irrtümlich für Muslime hielt.

Zur ersten tödlichen Verwechslung kam es schon am 15. September 2001, als sich der Arbeiter Frank Roque in Arizona unter dem Eindruck der Anschläge und dem Einfluss einiger Dosen Bier in sein Auto setzte und drauflosfuhr. In Mesa stand der indischstämmige Balbir Singh Sodhi mit Turban vor seiner Tankstelle und beriet sich mit einem Gärtner, der gerade Blumen pflanzte.

Roque schoss ein halbes Dutzend Mal auf Sodhi und tötete ihn. Vor der Tat hatte er bereits erklärt, er würde gerne ein paar "rag heads", Lappenköpfe, erschießen. Bei seiner Verhaftung beteuerte er, er sei ein amerikanischer Patriot, und wünschte sich, mit vielen Waffen nach Afghanistan geschickt zu werden. Wegen seines geistigen Zustands hat das Oberste Gericht in Arizona seine Todesstrafe in eine lebenslange Haftstrafe umgewandelt.

Roques fehlgeleitete Vergeltungstat ist kein Einzelfall geblieben. Erst im April dieses Jahres hat der New Yorker Kongress-Abgeordnete Joseph Crowley auf die ständigen Angriffe gegen Sikh aufmerksam gemacht, auch zehn Jahre nach dem 11. September. Zusammen mit fast hundert Abgeordneten-Kollegen bat Crowley Justizminister Eric Holder darum, Angriffe auf Sikhs als "hate crimes" einzustufen, denen jemand nur wegen seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe zum Opfer fällt.

Allein 2011, schrieb Crowley, seien zwei amerikanische Sikhs ermordet, einer "verunstaltet" und einer verprügelt worden. Schon in der Schule würden drei von vier Sikhs schikaniert. Die Gläubigen gehörten zu jenen im Land, die am stärksten drangsaliert würden.

Politiker kondolieren, vermeiden aber das Thema Waffenkontrolle

Nach dem jüngsten Massaker erläuterten Vertreter der Sikhs ihren Glauben, versuchten aber, den Eindruck zu vermeiden, sie distanzierten sich nur deswegen vom Islam, um in Sicherheit zu sein. "Es ist sehr traurig, dass ich hier erklären muss, ich sei kein Araber", sagte etwa Rajwant Singh vom Rat der Sikhs bei CNN, "weder Sikhs noch Muslime sollten erschossen werden, nur weil sie sind, was sie sind."

Erst vor zwei Wochen hat ein Massenmord das Land verstört. Ein junger Mann drang schwer bewaffnet in ein Kino in Aurora, Colorado, ein, ermordete zwölf Menschen und verletzte 60. Der Täter wartet auf seinen Prozess, unklar ist, ob er schuldfähig ist. Eine ernsthafte Diskussion über den Zugang zu Schusswaffen findet aber auch nach dem zweiten Massenmord binnen kurzer Zeit nicht statt. Der Täter von Oak Creek, hieß es in Medienberichten unter Berufung auf Polizeiquellen, habe seine Waffe legal besessen.

Präsident Barack Obama und sein republikanischer Rivale Mitt Romney drückten den Opfern ihr Mitgefühl aus. Beide Politiker vermieden aber jede Anspielung auf das Thema Waffenkontrolle. Obwohl sich beide einst für einen beschränkten Zugang zu Schusswaffen eingesetzt haben, möchten sie diese Frage aus dem Wahlkampf heraushalten.

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