Amstetten: Psychologie des Missbrauchs:"Da laufen neidvolle Mutter-Tochter-Prozesse ab"

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Der Fall Amstetten folgt bizarren psychologischen Mechanismen, sagt Trauma-Arzt Ulrich Sachsse. Oft richte sich die Wut sexuell missbrauchter Kinder nicht nur gegen den Vater, sondern auch gegen die Mutter, die nicht hilft.

Cathrin Kahlweit

Ulrich Sachsse ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie am Asklepius Fachklinikum Göttingen. Er behandelt Patienten, die unter schweren Traumata leiden.

Behandelt Trauma-Patienten: Ulrich Sachsse (Foto: Foto: privat)

SZ: Laut Polizeilicher Kriminalstatistik werden jährlich etwa 20000 Kinder sexuell missbraucht, die meisten von nahen Angehörigen. Die Dunkelziffer liegt weit höher. Warum vergewaltigen Väter ihre Kinder?

Ulrich Sachsse: Oft haben diese Täter Schwierigkeiten mit eigenständigen, selbstbewussten Frauen. Aber warum dann ein Mann eine junge, unterwürfige Frau heiratet und ein anderer seine eigene Tochter vergewaltigt, das ist wissenschaftlich noch nicht zu beantworten.

SZ: Nun hat Josef F. in Amstetten eine Tochter mehr als 30 Jahre lang missbraucht, die dabei gezeugten Kinder aber nicht. Ist es ein wiederkehrendes Muster, dass ein Kind quasi ausgesondert wird?

Sachsse: Sofern sich ein Kind entzieht, ist es leider oft so, dass dann die jüngere Schwester dran ist und sich die Sache in der Familie fortsetzt. Wenn es Elisabeth F. geschafft hätte, mit 17 abzuhauen, hätte sich der Vater womöglich einem anderen Kind zugewandt. Aber dadurch, dass er Elisabeth eingesperrt hat, hat er sie auf Dauer für sich gesichert.

SZ: 90 Prozent aller Mütter schauen laut Statistik weg, wenn ihre Männer die Kinder missbrauchen. Auch Rosemarie F. hat nach eigenen Angaben nie etwas gemerkt - auch nicht vom fortwährenden Missbrauch der eigenen Tochter vom 11. Lebensjahr an. Was passiert da?

Sachsse: Menschen haben die Tendenz, Dinge auszublenden, die sehr schwierige Handlungen erzwingen würden. Zehn Prozent der Frauen stellen ihren Mann aber zur Rede, schmeißen ihn raus. Leider geschieht das viel zu selten.

SZ: Warum obsiegt nicht der mütterliche Schutzinstinkt über das Bedürfnis, den Alltag zu retten?

Sachsse: ... den Alltag zu retten, die Liebe zum Mann zu retten, die Familie zu retten... Schon ab zehn, zwölf Jahren wird das Kind nicht mehr als Kind wahrgenommen, der Mutterinstinkt nimmt dann, biologisch gesehen, ab. Allerdings kenne ich Urteile, in denen die Mutter mit verurteilt worden ist, weil sie sich nicht schützend vor die Tochter gestellt hat.

SZ: Gibt es so etwas wie eine Aggression der Mutter auf die Tochter aus Eifersucht heraus?

Sachsse: In Schneewittchenmanier wird nicht selten die Tochter von der Mutter angegiftet, dass sie ihr den Mann ausspanne. Da laufen neidvolle Mutter-Tochter-Prozesse ab, die Anderes überlagern. Eine bittere Erfahrung für das Opfer.

SZ: Und wie gehen Kinder damit um, dass die Mutter nicht hilft? Das muss doch ein traumatisches Erlebnis sein.

Sachsse: Ein Drittel meiner Patientinnen empfinden mehr Wut und Enttäuschung gegenüber der nicht schützenden Mutter als sie gegenüber dem Täter empfinden. Ich arbeite seit mehr als einem Jahrzehnt mit traumatisierten Frauen und habe ein einziges Mal eine Mutter erlebt, die sich damit differenziert auseinandersetzte. Die erklärte, dass sie Angst vor einer Scheidung hatte, den Inzest nicht wahrhaben wollte.

SZ: In allen anderen Fällen haben sich die Mütter Ihrer Patientinnen nicht zu ihrem Fehlverhalten bekannt?

Sachsse: Das ist die absolute Ausnahme. In Inzestfamilien gibt es keine Aufarbeitung innerhalb der Familie. Fast immer wird das Opfer ausgegliedert, die Familie rückt zusammen. Üblich ist das Muster, dass die Familie sagt: Das muss doch mal vorbei sein, was tust du uns damit an, das ist doch schon alles so lange her.

SZ: Das Opfer wird zum Schuldigen?

Sachsse: Ja, und dazu kommt: Es gibt keine Familientherapien für Inzestfamilien. In Kalifornien gibt es die Alternative, dass Täter entweder zu Gefängnis oder zu Familientherapie verurteilt werden können. Aber selbst diese Therapien laufen nicht gut; sie sind eine jahrelange Hakelei mit Ausreden und Lügen. Täter bekennen sich nur selten zu ihren Taten.

SZ: Welche Erklärung oder Ausrede haben die Täter?

Sachsse: Es gibt die Pädosexuellen, die behaupten, Sex sei doch für das Kind sehr schön und erfüllend. Ich habe aber noch nie von einem Opfer gehört, das die Sexualität mit dem eigenen Vater als befriedigend empfand. Die andere Gruppe agiert nach dem Motto: Frauen stehen zur Verfügung, ich habe ein Recht darauf, mein Kind gehört mir.

SZ: Was passiert in der Seele eines Kindes, das vom Vater missbraucht wird?

Sachsse: Das löst eine ungeheure Konfusion aus. Kinder verstehen Sexualität nicht, aber wenn dann Testosteron und Östrogen kommen, wenn die Pubertät einsetzt, dann wird die ganze Kindheit umgedeutet. Als Pubertierende verstehen die Opfer, was da geschehen ist, dann fühlen sie sich ausgegrenzt, verzweifelt, verloren.

© SZ vom 02.05.2008/grc - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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