Amoklauf von Winnenden und Web 2.0:Gezwitscher ohne Fakten

Beschimpfungen für den Falschen und angebliche Ankündigungen: Nach dem Amoklauf gab es beinahe sekündlich neue Einträge auf Twitter, Facebook und YouTube - viele davon waren spekulativ oder einfach nur falsch.

Jürgen Schmieder

Die erste Nachricht gab es gegen 10.30 Uhr: Die Twitter-Userin "tontaube" schickte 129 Zeichen über den Microblogging-Dienst: "ACHTUNG: In der Realschule Winnenden gab es heute einen Amoklauf, Täter angeblich flüchtig - besser nicht in die Stadt kommen!!!!" Es war die erste Meldung über den Amoklauf des Tim K. im baden-württembergischen Winnenden, die junge Frau war nur wenige Kilometer von der Realschule entfernt. Sie hatte die Information von einer Kollegin. Später sagt sie in einem Interview mit dem Bayerischen Rundfunk: "Ich will keine Falschmeldung in die Welt setzen, nur um etwas zu schreiben."

dpa

Winnenden: Auf zahlreichen Portalen gab es Spekulationen und Falschmeldungen.

(Foto: Foto: dpa)

Damit gehört "tontaube" zu den wenigen Menschen an diesem Tag, die sich nicht an den Spekulationen über den Täter beteiligten. Sie schrieb als Augenzeugin das auf, was sie selbst gesehen oder was andere Augenzeugen ihr berichtet hatten. Nach der ersten Meldung aber ging es los im Web 2.0: Es hatte den Anschein, als ob jeder vernetzte Mensch versuchte, etwas über den Täter herauszufinden. Ein 17-Jähriger, der muss doch ein Profil haben bei MySpace, bei Facebook, bei schuelerVZ.

Auf Twitter wurde die Meldung eingestellt, der Täter sei von der Polizei gefasst - ein Irrglaube, der von einigen Nachrichtenportalen übernommen wurde. Eine Polizeisprecherin musste umgehend dementieren: "Das stimmt nicht. Der Täter ist noch nicht gefasst." Derweil gab es bei Twitter schon die ersten Täterprofile, obwohl kaum jemand seinen Namen kannte und er noch frei herumlief. Er höre Hardcore-Musik, verbringe seine Zeit mit Computerspielen und sei vernarrt in Waffen.

Wie man das herausfindet? Nun, auf der Amazon-Wunschliste eines Tim K. stand ein Ballerspiel - obwohl allein die Versandadresse genügt hätte, um zu sehen, dass es sich nicht um den Täter gehandelt haben kann. Auf der Homepage eines anderen Tim K. - der übrigens in seinem Gästebuch beschimpft wurde - stand, dass er gerne Metal-Musik hört.

Diese Spekulationen wuchsen sich rapide aus, als der Name des Täters bekannt wurde. Mit Fakten allerdings hatte das Gezwitschere schon lange nichts mehr zu tun. Die User suchten auf verschiedenen Portalen nach Profilen - und twitterten alles, was dort zu sehen war.

Die Gerüchte standen nun auf Twitter - und sie wurden von so vielen Menschen gelesen, dass bisweilen der Server zusammenbrach. Es gab keine Einordnung, keine Bestätigung der Fakten - jeder durfte hineinschreiben, was er irgendwo gefunden hatte. Selbst Nachrichtenportale entsandten Reporter, die nicht den aktuellen Stand, sondern vielmehr ihre Befindlichkeiten auf Twitter loswurden.

Jagd nach Details

Man konnte fündig werden bei der Plattform Facebook, wenn man den Namen des Täters eingab. Fünf Menschen wurden angezeigt, drei hatten ihren Wohnort im Ausland angegeben, der andere bot einen süßen Bären als Profilbild. Also musste es doch der blonde Typ sein, der in etwa 17 Jahre alt ist und ernst auf dem Profilbild dreinblickt. Schon ging das Gerücht um, dass es sich dabei um den Täter handeln könnte.

Es entwickelte sich eine wahre Jagd nach Details zum Täter - und immer mehr Spekulationen wurden veröffentlicht. Es gab das Gerücht, die Polizei sei bereits vor der Tat an der Schule gewesen, manch einer kombinierte die Anfangsbuchstaben T.K., übersetzte sie ins Englische und schloss daraus, dass der Täter ein gewisser "tikey" sein müsste, der im Jahr 2007 auf YouTube ein Video veröffentlicht hatte, in dem die Textzeile "Ein Schuss in Deine Brust" vorkommt. Ein Nutzer von Twitter schrieb reißerisch: "Tikey (Tim K.) kündigte indirekt seine Tat auf YouTube an." Freilich war Tim K. nicht "tikey".

Erst nach einigen Stunden wurden die wahren Profile des Täters auf Kontaktportalen wie Facebook, MySpace und schuelerVZ gelöscht. Mittlerweile gibt es zahlreiche Kondolenz-Gruppen auf diesen Portalen, wo der Opfer gedacht wurde. Auf diese Weise wurden die Portale wieder überaus sinnvoll genutzt.

An der ersten Meldung von "tontaube" konnte man an diesem Tag sehen, welch großen Sinn Portale wie Twitter haben können. Danach wurde - sieht man sich all die Falschmeldungen und Spekulationen an - deutlich, wie gefährlich sie sein können. Vor allem dann, wenn Nachrichtenportale und Zeitungen sich auf Twitter-User als verlässliche Quelle berufen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: