Amoklauf von Winnenden:Eine Waffe und viele Schlussfolgerungen

Während die Toten in Winnenden beigesetzt werden, wehren sich die Eltern des Attentäters gegen Vorwürfe.

Bernd Dörries

Es gibt viele Fragen in diesem Fall. Manche kann Achim Bächle nicht beantworten, weil er die Antworten auch nicht kennt. Andere möchte er nicht beantworten, weil das nicht im Sinne seiner Mandanten wäre. Die Mandanten, das sind die Eltern von Tim Kretschmer, dem Amokläufer von Winnenden.

Amoklauf von Winnenden: Winnenden trauert um die Menschen, die der Amokläufer erschossen hat.

Winnenden trauert um die Menschen, die der Amokläufer erschossen hat.

(Foto: Foto: dpa)

Seit Freitag vertritt Rechtsanwalt Bächle sie, am Samstag haben sie sich getroffen, die Eltern sind nicht ins Ausland geflohen, wie hier und da geschrieben wurde. Wie ihr Zustand ist? "Tja. Wie geht man mit so etwas um? Das können Sie schlussfolgern", sagt Bächle.

Der Depressive und die Waffe

Er hat lange dunkle Haare, trägt einen Cordanzug und sitzt in seinem Büro in der Stuttgarter Innenstadt, die Sonne kommt durch die Jalousien, unten auf den Straßen werden die Einkaufstüten nach Hause getragen. Das ganz normale Leben. In Winnenden und im Leben seiner Mandanten ist seit dem Mittwoch nichts mehr wie es war, aber die Aufgabe von Bächle besteht derzeit nicht darin, zu erklären, wie es so weit kommen konnte, oder zumindest dazu beizutragen. Er sagt nur, wie es nicht war aus Sicht der Eltern. "Die Presse tut so, als gebe es da einen depressiven Sohn und eine Waffe, die frei herumlag. Das ist falsch", sagt Bächle. Der depressive Sohn und die Waffe, das sind die entscheidenden Punkte.

Es geht nicht nur um die Frage einer moralischen Mitschuld der Eltern, sondern auch um strafrechtliche Konsequenzen. Dem Vater droht ein Ermittlungsverfahren wegen 15-facher fahrlässiger Tötung. Der Oberstaatsanwalt Siegfried Mahler hatte bereits am Donnerstag gesagt, ein Verfahren gegen den Vater komme in Frage, wenn bei Tim Kretschmer eine "Amok-Neigung" bekannt gewesen wäre und der Vater dennoch eine Waffe frei zugänglich in der Wohnung gehabt hätte.

Amok-Neigung, das ist ein schwieriger Begriff. Letztlich geht es für die Ermittler wohl darum, den Eltern nachweisen zu können, dass sie wussten oder ahnten, was sich in Tim Kretschmer möglicherweise zusammenbraute. Eine psychiatrische Behandlung wäre da ein Indiz. "Der Sohn war gar nicht in psychotherapeutischer Behandlung", sagt Bächle. Innenminister Heribert Rech hatte am Donnerstag genau dies behauptet und damit Spekulationen über den späteren Attentäter ausgelöst.

Rechtliche Schritte

Die Polizei Waiblingen stellte am Samstag fest, "dass der Tatverdächtige vom April 2008 bis September 2008 im Klinikum am Weissenhof in Weinsberg mehrmals vorstellig wurde". Anwalt Bächle sagt hingegen, allein der ambulante Aufenthalt in einer solchen Einrichtung sage noch gar nichts darüber aus, welcher Art die Hilfestellungen seien. Die Eltern des Amokläufers würden sich rechtliche Schritte gegen den Direktor des Klinikums vorbehalten, der die ärztliche Schweigepflicht verletzt habe und den Aufenthalt von Tim Kretschmer bestätigt hatte. So viel könne man zu diesem Zeitpunkt mitteilen, sagt Bächle. Vielleicht noch, dass im Keller der Eltern keine Schussbahn war, auf der der Sohn mit Softair-Waffen übte, wie es berichtet wurde.

In Winnenden öffnete die Polizei am Wochenende Teile der Albertville-Schule. Schüler holten ihre Fahrräder ab, die sie am Mittwoch auf dem Pausenhof stehen lassen mussten, Polizisten händigten Mäppchen und Jacken aus, die sich noch in den Klassenzimmern befanden. Einige Schüler brachen in Tränen aus. "Diese Gegenstände sind ganz eng mit den schrecklichen Ereignissen verbunden", sagte Dieter Glatzer, der Leiter des Kriseninterventionsteams der Schulpsychologen. Eine Schülerin der zehnten Klasse wurde am Samstag beerdigt, Hunderte Menschen kamen. "Ihr seid jung und dürft weiterleben. Ich wünsche Euch, dass irgendwann die Freude in Euer Leben zurückkehrt", sagte der Priester.

Geschichte verkauft

Ein Überlebender stand in den vergangenen Tagen im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses: Igor W. Der 41-Jährige hatte am Mittwoch vor dem Psychiatrischen Zentrum in Winnenden im Auto gewartet, als Tim Kretschmer einstieg und ihn mit vorgehaltener Waffe zu einer fast zweistündigen Fahrt durch den Großraum Stuttgart zwang. "Soll ich mal Spaß machen und die Autos und die Fahrer abknallen?", habe Tim Kretschmer ihn gefragt, berichtete Igor W. der Polizei. Er habe ihn davon abgebracht.

Gegen Mittag lenkte der Fahrer seinen Wagen in einen Hügel am Seitenrand einer Autobahnausfahrt und sprang aus dem Fahrzeug, es war seine Rettung. Am Freitagnachmittag standen Reporter vor dem kanariengelben Haus von Igor W. in Göggingen auf der Ostalb und wollten die Heldengeschichte hören. Ein Helfer der Opferorganisation Weißer Ring trug die Presseanfragen in das Haus. Zwei Polizisten kamen schließlich und sagten, Igor W. fühle sich von der Meute belästigt. Seine Geschichte soll er verkauft haben. An eine Talkshow und ein Wochenmagazin. Man wird von ihm hören.

Viele hundert Kilometer entfernt in Berlin zankten die Parteien am Wochenende über Konsequenzen aus dem Amoklauf. SPD und Grünen forderten eine Verschärfung des Waffenrechts. Bundespräsident Horst Köhler hielt eine Debatte über den Zusammenhalt in der Gesellschaft für nötig. Und Bundeskanzlerin Angela Merkel meinte, es solle überlegt werden, ob man durch unangemeldete Kontrollen die ordnungsgemäße Aufbewahrung von Waffen und Munition überprüfen könne. Jeder hat nun eine Idee und eine Antwort.

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