Amoklauf in Winnenden:"Nicht ganz zutreffend"

Amoklauf Winnenden - Prozess

Ein Fall, den man nie vergisst: Hier lag der Amokläufer von Winnenden 2009 nach seinem Tod.

(Foto: Ronald Wittek/dpa)

Hätten sie Alarm schlagen müssen? Der Vater des Winnenden-Attentäters klagt gegen Psychotherapeuten, die seinen Sohn behandelten. Es geht um vier Millionen Euro.

Von Josef Kelnberger, Heilbronn

In den Akten ist von "Hass auf die gesamte Menschheit" die Rede, von Gedanken, die darum kreisen, "Menschen umzubringen". In einem Klammerzusatz ist vermerkt: "alle erschießen". All das hielt eine Jugend-Psychotherapeutin nach einem ersten Gespräch mit Tim K. im April 2008 fest; bis in den September 2008 hinein wurde der junge Mann in der Psychiatrie Weinsberg nahe Heilbronn untersucht, insgesamt fünf Mal. Ein halbes Jahr nach dem letzten Termin, am 11. März 2009, tötete der 17-Jährige bei seinem Amoklauf in Winnenden und Wendlingen 15 Menschen und am Ende sich selbst.

Hätten die Experten erkennen müssen, was in Tim K. vorging? Hätten sie Alarm schlagen müssen? Strafverfahren gegen die Klinik sind bereits eingestellt worden, der Vater von Tim K. klagt nun auf Schadensersatz und Schmerzensgeld, insgesamt geht es um vier Millionen Euro. Umso überraschter war Jürgen Rieger, der Vorsitzende Richter, dass Jörg K. am Dienstag nicht zur Verhandlung vor der 1. Zivilkammer am Landgericht Heilbronn erschien. Jörg K. ließ seine Anwälte eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlegen, die der Richter für "nicht sehr aussagekräftig" hielt. Als überflüssig erwiesen sich damit die umfangreichen Sicherheitsvorkehrungen, die das Gericht auf Wunsch des Klägers angeordnet hatte.

Richter Rieger erinnerte noch einmal daran, welche "schreckliche Tat" diesem Streit um Geld zugrunde liegt. Tim K. hat an seiner ehemaligen Schule in Winnenden acht Schülerinnen, einen Schüler, drei Lehrerinnen erschossen und auf seiner Flucht drei weitere Menschen, ehe er die Waffe auf sich selbst richtete. Weil er die Tatwaffe unverschlossen im elterlichen Kleiderschrank gefunden hatte, wurde der Vater zu eineinhalb Jahren auf Bewährung wegen fahrlässiger Tötung verurteilt. Zudem musste er hohe Schadensersatzzahlungen leisten. Entgegen seiner Behauptung, er sei mittellos, wird spekuliert, er habe zumindest seine Firma durch Überschreibungen in Sicherheit gebracht.

Die Psychiatrie Weinsberg soll ihm nun jedenfalls die Hälfte des Schadensersatzes erstatten. Die Diagnose "Soziale Phobie" stand damals am Ende der Untersuchungen von Tim K. - kein Fehler, aber auch "nicht ganz zutreffend", so ambivalent urteilt der Kinder- und Jugendpsychiater Helmut Remschmidt, der für das Gericht ein Gutachten über die damalige Behandlung erstellte. Grobe Fehler wollte er am Dienstag auch auf mehrmalige Nachfragen der Psychiatrie Weinsberg nicht vorwerfen. Tim K. selbst hatte seine Eltern seinerzeit gedrängt, ihn psychiatrisch untersuchen zu lassen; er vermutete eine "bipolare Störung" bei sich selbst. Gerade diese Stimmungsschwankungen würden nicht zur sozialen Phobie passen, sagte Remschmidt. Die Ärzte hätten jedenfalls sehr lange um ihre Diagnose gerungen. Und zu der von ihnen empfohlenen Therapie kam es dann ohnehin nicht mehr.

Der Gutachter wundert sich, dass offenbar nie über Waffen gesprochen wurde

Gutachter Remschmidt geht anhand der Akten davon aus, dass Tim K. unter einer "multiplen Persönlichkeitsstörung" litt. Aber er verwies in der Verhandlung immer wieder darauf, dass Diagnosen in der Psychiatrie nur selten ganz eindeutig zu stellen seien.

Außerdem gebe es generell keine Diagnose, die in der Lage sei, einen Amoklauf vorauszusagen. Als Unzulänglichkeit monierte er, dass bei dem Jungen keine Sexualanamnese durchgeführt wurde. Gerade sie könne Hinweise auf Amokläufe geben. "Aber hinterher", sagte er, "ist man natürlich immer schlauer." Was den Gutachter in jedem Fall verwunderte: dass offenbar nie von Waffen gesprochen wurde. Wenn in den Gewaltfantasien von "erschießen" die Rede sei, liege es doch nahe, darüber zu reden, ob der Patient Zugang zu Waffen hatte. Auch den Eltern sei dies zum Vorwurf zu machen. Zumindest steht in den Akten nichts davon, auch wenn der Vater nun offenbar behauptet, es sei von Besuchen auf dem Schießstand die Rede gewesen, um Tim unter Leute zu bringen. Jörg K. war ein passionierter Sportschütze, im Zimmer des Jungen fand man später elf Softair-Waffen. Insgesamt 29 Ordner sichtete der Gutachter, "aber das vermisse ich". Zugute hielt er der Klinik, dass nach dem ersten Termin bei Tim K. immer wieder nachgefragt wurde, ob er diese Gewaltfantasien noch hege. Er habe verneint.

Während die Anwälte von Jörg K. schwere Behandlungsfehler monieren, weist die Verteidigung alle Vorwürfe zurück.

Ein Urteil soll nicht vor Ende April verkündet werden.

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