Ende Juni, zwei Wochen nach Abschluss der grotesken Gerichtsverhandlung zwischen Amber Heard und Johnny Depp, gab die Schauspielerin ein Interview. Sie wollte wohl ein paar Dinge richtigstellen nach dem ihrer Meinung nach unfassbaren Urteil. Und schon damals war zu befürchten, dass das Interview keinesfalls der Epilog ist zu diesem Fall. Jetzt, Anfang Dezember, zeigt sich: Das nächste Kapitel wird bereits geschrieben.
Heard hat in dieser Woche offiziell Berufung eingelegt gegen die Urteile der Geschworenen im US-Bundesstaat Virginia, denen zufolge sie insgesamt 10,35 Millionen Dollar an Depp bezahlen muss. Der Schauspieler hatte vor vier Wochen ebenfalls Berufung eingelegt. Es hatte nämlich noch ein weiteres Urteil gegeben: Depp muss zwei Millionen Dollar an Heard zahlen. Beide Klagen wurden im Frühjahr gemeinsam verhandelt, und sie wurden danach gemeinsam bewertet - als kolossaler juristischer Sieg für Depp.
So einfach ist es freilich nicht. Genau deshalb haben nun beide Seiten Berufung eingelegt. Warum das juristisch höchst interessant ist, lässt sich der 68 Seiten langen Begründung von Heards neuem Rechtsbeistand entnehmen. Die beiden Urteile vertragen sich nicht, heißt es darin. Das war von Experten bereits direkt nach Ende der Verhandlung angemerkt worden, in der Berufung steht nun: "Um in dem einen Fall für Depp zu entscheiden, muss die Jury zu dem Schluss gekommen sein, dass er Heard nie missbraucht hat und sie wissentlich gelogen hat, indem sie ihn des Missbrauchs bezichtigte. Wenn sie aber im anderen Fall feststellt, dass Heard die Wahrheit gesagt hat darüber, Opfer von Missbrauch durch Depp gewesen zu sein, kann das Urteil gegen Heard so nicht bestehen bleiben."
Das ist auch der Grund, warum Depp bereits vor vier Wochen Berufung eingelegt hat. Er weiß, dass dies die Achillesferse dieser Verhandlung sein könnte, bei der es neben dem juristischen Urteil auch ein gesellschaftliches gegeben hatte. Der Prozess war eine Schlammschlacht, es gab eine Rund-um-die-Uhr-Live-Berichterstattung, die prägenden Szenen wurden zu Memes in den sozialen Medien, das öffentliche Urteil war dann fast einstimmig: Depp erschien als das liebenswerte Arschloch, ein oft aggressiver Alkoholiker, aber doch unwiderstehlich. Heard dagegen wurde als rachsüchtige Femme fatale gesehen, als böswillig, ja fast diabolisch.
Auch das wird thematisiert in der Berufung. Dadurch, dass es Depp gelungen war, den Prozess in Virginia anzustrengen - es ging ja um einen Online-Gastbeitrag von Heard in der Washington Post, die Server des Internetportals befinden sich in Virginia -, sei der Prozess so verlaufen. In Kalifornien, wo beide leben, wäre das anders gewesen, auch im größeren gesellschaftlichen Zusammenhang, heißt es in Heards Berufung: "Es ist, sollte das Urteil so bestehen bleiben, eine abschreckende Botschaft an andere Frauen, die über Missbrauch durch mächtige Männer sprechen wollen."
Der Gesetzgebung in Virginia gemäß wird eine Gruppe Richter über beide Anträge entscheiden. Sowohl Heard als auch Depp haben, je nach Urteil, die Möglichkeit, bis zum Obersten Gerichtshof des Bundesstaates zu gehen. Das bedeutet, es könnte Monate, sogar Jahre dauern, bis es zu einer Entscheidung kommt.