Urteil in Perugia:Amanda Knox ist nach vier Jahren frei

Nach vier Jahren ergeht das Urteil eines Berufungsgerichts, auf das Amanda Knox und ihr Mitangeklagter Raffaele Sollecito so sehnsüchtig gewartet haben: nicht schuldig. Ein glatterer Freispruch im Fall des Mordes an der britischen Studentin Meredith Kercher wäre nicht möglich gewesen. Eine Ohrfeige für die italienische Polizeiarbeit - und ein Schock für die Familie des Opfers.

Andrea Bachstein, Perugia

"Im Namen des Volkes", spricht der Vorsitzende Richter Claudio Pratillo Hellmann, und die Spannung im Schwurgerichtssaal ist zum Zerreißen: Knox Amanda Marie ist schuldig - der Verleumdung.

Dann erst folgt kurz vor 22 Uhr der Spruch, um den es geht, über den die Geschworenen und Richter an diesem Montag elf Stunden lang beraten haben, auf den Amanda Knox und Raffaele Sollecito seit vier Jahren warten: Freispruch, nicht schuldig des Mordes an der britischen Studentin Meredith Kercher, ein glatterer Freispruch wäre nicht möglich gewesen. Die Angehörigen von Knox, Vater, Mutter, Onkel, Schwestern fallen einander weinend in die Arme. In Windeseile werden Amanda Knox und Sollecito aus dem Saal geführt.

Inzwischen ist das Urteil auch schon draußen angekommen, auf der Piazza Matteotti in Perugia, wo seit Stunden nicht nur das Heer der Kameraleute und Journalisten wartet, sondern auch immer mehr Schaulustige sich versammelt haben. Und dann gellen auch schon die ersten Pfiffe aus der Menge, obwohl nur einer der nun siegreichen Anwälte von Knox vor die Tür tritt. Weiter zieht die Menge zum Haupttor des Appellationsgerichts, "Vergogna, Vergogna", Schande, Schande rufen die Menschen, und es ist erst nicht ganz klar, ob sie das Urteil von gerade eben meinen, oder das Urteil vor zwei Jahren. Dann wird klar, die Menge ist in ihrer Meinung geteilt.

"Ich bin unschuldig, Raffaele ist unschuldig"

Sollectio und Knox sind freie Leute nach mehr als 1400 Tagen Haft. Am Morgen hatten sie ihre letzten Erklärungen an das Schwurgericht abgegeben. Knox kamen die Tränen danach. "Ich bin unschuldig, Raffaele ist unschuldig", hatte sie gesagt, "ich bestehe auf unserer Unschuld", und Sätze wie: "Ich verlange unsere Freiheit, ich verlange Gerechtigkeit". Voller Anspannung und immer wieder stockend hatte die 24-Jährige aus Seattle gesprochen. Manchmal musste sie schwer Atem holen bei ihrem Appell an die zehn Geschworenen und zwei Berufsrichter. Zehn Minuten und 18 Sekunden dauerte die Einlassung von Knox am Montagvormittag.

In der Nacht vom 1. auf den 2. November 2007, so lautete der Vorwurf, sollen sie zusammen mit einem dritten Täter die 22-jährige Meredith Kercher gequält, vergewaltigt und mit Messerstichen getötet haben. 26 Jahre Haft hat Knox im Dezember 2009 beim ersten Verfahren bekommen und 25 Sollecito. Der dritte Mann, Rudi Guede, ist in getrennten Prozessen zu 16 Jahren Haft verurteilt worden.

Polizeiarbeit in der Luft zerrissen

Perugia wirkte zuletzt wie belagert. Mindestens 400 Berichterstatter aus aller Welt waren angereist, vor allem aus den USA, wo Amanda Knox als Opfer mindestens eines mittelalterlichen Justizsystems, wenn nicht gar von Antiamerikanismus gilt. In den USA hielten sie Amanda Knox von Anbeginn an für unschuldig, lange bevor Ende Juni die Wende im Prozess kam.

Der war in seiner letzten Phase zur Schlacht um kleinste Teile geworden: Um Nanopartikel von Genmaterial, um Wahrscheinlichkeiten in Mikrogramm. Und alles sah so aus, als werde die Staatsanwaltschaft diese Schlacht verlieren, obwohl sie wieder lebenslang für Knox und Sollecito gefordert hatte. Ein Gutachten zweier Wissenschaftler der römischen Universität La Sapienza hatte von den Hauptbeweisstücken der Anklage praktisch nichts übriggelassen.

Die Experten hatten die Arbeit der Spurensicherung und des Polizeilabors in der Luft zerrissen. Laut Polizeilabor waren auf dem Verschluss von Kerchers BH DNS-Spuren von Sollecito. Und ein Messer aus seiner Küchenschublade, die mutmaßliche Mordwaffe, so die Anklage, trug auf dem Griff DNS von Knox und an der Klinge Blut von Kercher. Die Gutachter im Berufungsverfahren konstatierten dagegen, die Spuren auf dem BH-Häkchen seien nicht zuzuordnen, und auf dem Messer sei kein Blut des Opfers nachzuweisen. Heftig hatte Staatsanwältin Manuela Comodi die Wissenschaftler im Gerichtssaal attackiert. Aber als deren Gutachten vorlag, äußerten die Angeklagten und ihre Verteidiger ihre Überzeugung, dass nur noch Freisprüche vorstellbar seien.

Auch am letzten Tag des Prozesses konzentrierte sich wieder alles auf Amanda Knox und ihren Auftritt. Trotz der Hitze trug sie über ihrem dunkelgrünen Shirt einen schwarzen Dufflecoat. Schmal war sie und ungeschminkt, wie immer. Sie hatte nichts Flirrendes, Geheimnisvolles an sich. Wie ein verängstigtes, unsicheres Mädchen wirkte sie, hübsch, aber keine einzigartige Schönheit.

Längst hatte sie aufgehört, mit den Kameraobjektiven zu flirten wie am Anfang des ersten Prozesses. Das hatte ihr zwar hingerissene Bewunderer in der ganzen Welt eingetragen, das daraus resultierende Image als Femme fatale hatte ihr jedoch auch schwer geschadet.

"Ich habe nicht geraubt, nicht vergewaltigt, nicht getötet"

Ruhig hörte sie nun am Montag zu, wie Raffaele Sollecito seine Schlussworte an das Gericht sprach. Von der Qual der mehr als 1400 Tage hinter Gittern redete er, von seiner Unschuld und der Amandas. Die habe er kennengelernt als schönes, heiteres, lebhaftes, süßes Mädchen. Alles, was sie an jenem Abend gewollt und getan hätten, sei die Zeit mit Zärtlichkeiten zu verbringen. Sollecito hatte die ganzen vier Jahre über ein weißes Gummiarmband getragen. "Raffaele und Amanda frei", stehe darauf, erklärte er. Und dann legte er das Armband demonstrativ ab vor Gericht, weil jetzt "eine neue Zukunft beginnt und neue Hoffnungen".

Amanda Knox hatte nach ihm auch von dem Bild gesprochen, das die Medien von ihr gezeichnet hätten. Als Hexe, Engel mit Eisaugen wurde sie tituliert. Sie sei immer dieselbe gewesen, sagte die junge Amerikanerin nun. Was sie aber trenne von der Amanda, wie sie vor vier Jahren war, seien ihre Erfahrungen. Vorher habe sie nie gelitten, "Tragödien kannte ich nur aus dem Fernsehen". Immer habe sie Polizei und Behörden vertraut. Doch damit sei sie "betrogen worden". Sie sei bei den Verhören manipuliert und unter Druck gesetzt worden. "Ich bin nicht, was sie sagen: Ich habe nicht geraubt, nicht vergewaltigt, nicht getötet."

Familie Kercher ohne Gewissheit über den Tod der Tochter

Über eine ihrer Anwältinnen hatte sie vor ein paar Tagen mitteilen lassen, sie hoffe, bald wieder in den Wäldern von Seattle spazieren zu gehen, und ihre Eltern wollten sie möglichst sofort mitnehmen. Das wird sich nun erfüllen. Amanda Knox wird freikommen, wie Raffaele Sollecito, der in der Haft sein Informatikstudium abgeschlossen hat, und die Heimkehr nach Apulien nicht mehr erwarten kann.

Wahrheit und Gerechtigkeit wünsche man sich, hat die Familie Meredith Kerchers vor dem Urteil erklärt. Nach diesem Urteil muss die Familie Kercher nun zurückkehren nach London, ohne sicher zu wissen, wie Meredith gestorben ist. Und wem sie möglicherweise verzeihen sollte, wenn sie es könnte.

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