SZ-Kolumne "Alles Gute":Durchsichtiges Lächeln

Corona und Alltag
(Foto: Steffen Mackert)

Wie erreicht man jetzt als Straßenkünstlerin sein Publikum? Die Moskauerin Katrin Nenaschewa hat einen ganz eigenen Weg gefunden.

Von Silke Bigalke

Die Straßen von Moskau sind verwaist. Wegen der Pandemie darf man nur noch raus, wenn es sich nicht vermeiden lässt. Für Katrin Nenaschewa lässt es sich nicht vermeiden, sie ist Straßenkünstlerin. Normalerweise geht sie nach draußen, weil sie dort Publikum hat und die Leute auf etwas aufmerksam machen möchte. Um Folter anzuprangern, hat sie sich öffentlich in einen Käfig gesperrt. Um auf Grausamkeiten in Waisenhäusern hinzuweisen, hat sie ein Kinderbettgestell durch die Stadt getragen. Gegen die Stigmatisierung früherer Häftlinge ist sie in Gefängniskleidung durch Moskau gelaufen. Es geht ihr um die Unmenschlichkeiten im Land. Mehr als einmal ist sie dabei festgenommen worden, auch das bringt Aufmerksamkeit.

Jetzt aber geht sie nicht auf die Straße, weil dort viele Menschen sind, sondern weil dort keine mehr sind. "Die Stadt ist gestorben, sie ist leer und tot geworden", sagt sie. Wie könnte man etwas Menschliches dorthin zurückzubringen? Viele Leute in Quarantäne haben Nenaschewa geschrieben, wie es ihnen geht und was sie fühlen. Einige dieser Nachrichten hat sie jetzt wie kleine Tagebucheinträge in der Stadt verteilt. Sie hat vor allem kürzere Sprüche ausgesucht, denn Farbe ist gerade schwer zu bekommen. "Ich bin es müde, mich zu fürchten", steht jetzt an der Wand einer alten Fabrik, "Ich bin in der Nähe" auf dem Steinboden eines Parks. Nenaschewa hat Fotos davon im Internet veröffentlicht.

Im zweiten Teil ihrer Kunstaktion hat sie sich mit denen beschäftigt, die rausmüssen, ob sie wollen oder nicht. Sie hat spezielle Gesichtsmasken an Verkäufer, Polizisten aber auch einige der unzähligen Lieferboten verteilt. Die hetzen wie in normalen Zeiten auf dem Rad oder zu Fuß durch Moskau, unterbezahlt, gestresst, eine große Thermobox mit Essen auf dem Rücken.

Die Künstlerin hat ihnen Masken mit einem kleinen Fenstern aus durchsichtigem Kunststoff darin genäht. So sieht man wenigstens einen Teil ihres Gesichts, vor allem den Mund. Für Katrin Nenaschewa ist es eine Metapher, "dafür, dass die Menschen im russischen Dienstleistungssektor nie eine Stimme hatten". Jetzt gerade merken die Moskauer in Selbstquarantäne, wie sehr sie diese Menschen brauchen, die ihnen in Maske und mit Handschuhen das Essen vor die Tür stellen und dann in drei Meter Sicherheitsabstand darauf warten, dass man öffnet. Mit einer Maske mit kleinem Fenster könnten sie nun sehen, ob die Lieferboten zurücklächeln, wenn sie sich bei ihnen bedanken.

In jeder Krise passiert auch Gutes, selbst wenn man es nicht immer auf den ersten Blick erkennen kann. In dieser Kolumne schreiben SZ-Redakteure täglich über die schönen, tröstlichen oder auch kuriosen kleinen Geschichten in diesen vom Coronavirus geplagten Zeiten. Alle Folgen unter sz.de/allesgute

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