SZ-Kolumne "Alles Gute":Facetime-Anrufe für einsame Röhrenaale

Corona und Alltag
(Foto: Steffen Mackert)

Im menschenleeren Sumida-Aquarium von Tokio hatten sich die Röhrenaale von ihren Pflegern entfremdet. Also griffen diese zu einer alarmierenden Maßnahme.

Von Thomas Hahn

Die vielen Video-Anrufe sollen eine heilsame Abwechslung gewesen sein für die Röhrenaale im Sumida-Aquarium von Tokio. Wobei die Röhrenaale selbst natürlich niemand gefragt hat, ob sie wirklich Abwechslung wollten in Zeiten der Pandemie. Seit 1. März ist die Fische-Ausstellung am Fernsehturm Skytree geschlossen. Frieden ist eingekehrt. Niemand glotzt ständig durch die Scheiben in die künstlich angelegten Unterwasserwelten. Die Fische haben Pause von ihrem Job, sich betrachten zu lassen - auch die Röhrenaale, die es ja ohnehin nicht leicht haben im Leben. Ihr Schwanzende steckt immer in einer Röhre im Sandboden fest. Da stehen sie dann aufrecht wie Seegrashalme mit Augen, recken sich nach Fressbarem, schauen, was passiert, und können nicht weg.

Nur in ihre Röhren zurückziehen können sie sich, was freie Röhrenaale in den Flachwasserregionen der Tropen auch machen, sobald sich jemand nähert. Die Röhrenaale im Showgeschäft tun das nicht mehr. Im Sumida-Aquarium kommen zu den normalen Öffnungszeiten so viele harmlose Menschengesichter vorbei, dass die Aale gleich draußen bleiben. Aber seit über zwei Monaten gibt es ja keine Besucher mehr. Die Röhrenaale entdecken alte Verhaltensweisen neu. Oder wie es das Aquarium zuletzt in einer alarmierenden Twitter-Nachricht formulierte: "Sie beginnen, die Menschen zu vergessen."

Aus der Perspektive eines Röhrenaals ist das vermutlich kein großer Verlust, für Fischpfleger allerdings schon. Die Entfremdung eskalierte. Sobald die Pfleger nach dem Rechten schauen wollten, zogen sich die Aale in den Sand zurück und waren nicht mehr zu sehen. "Wir konnten nicht mehr nachschauen, wie es ihnen geht", sagt Pfleger Ryohei Horii. So entstand die Idee mit den Video-Anrufen. Von Sonntag vergangener bis Dienstag dieser Woche konnten sich Tierfreunde via Facetime melden, um Röhrenaale zu sehen - und vor allem, um von Röhrenaalen gesehen zu werden. Jeder Anrufer hatte fünf Minuten Zeit, der Zuspruch war rege: eine Million Anrufe aus der ganzen Welt, zwei Millionen Zuschauer. Auf fünf Tabletcomputern, die auf das Aquarium gerichtet waren, erschienen ständig Menschengesichter.

Die Röhrenaale waren erst etwas zögerlich, aber kamen dann doch raus. Für die Pfleger war die Aktion ein Erfolg. Und die Röhrenaale wissen jetzt wieder, was sie nicht vermisst haben.

In dieser Kolumne schreiben SZ-Redakteure täglich über die schönen, tröstlichen oder auch kuriosen kleinen Geschichten in diesen vom Coronavirus geplagten Zeiten. Alle Folgen unter sz.de/allesgute

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