Alkohol:Trockengelegt

Ländertreffen der Anonymen Alkoholiker (AA)

Der einzige Gott, an den alle glauben sollen, ist die Nüchternheit: 3000 Menschen besuchten am Wochenende die Veranstaltung der Anonymen Alkoholiker.

(Foto: Carmen Jaspersen/dpa)

1,3 Millionen Menschen in Deutschland gelten als alkoholabhängig. Wie helfen ihnen Organisationen wie die Anonymen Alkoholiker dabei, die Sucht endlich hinter sich zu lassen? Zu Besuch bei einem Treffen in Bremen.

Von Thomas Hahn, Bremen

Der freundliche Großvater mit dem weißen Haarkranz hat seine Geschichte erzählt, die von Sucht und Absturz handelt. Und jetzt ist die Frage, wie er heißen soll in dem Zeitungsartikel über die Veranstaltung, bei der er mitarbeitet. Er sitzt auf einer Treppe in der großen Bremer Stadthalle beim Jahrestreffen der deutschsprachigen Anonymen Alkoholiker (AA). Natürlich bricht er nicht mit der Grundregel, die schon im Namen seiner Selbsthilfe-Organisation schwingt; ohne den Schutz der Anonymität hätte er schließlich selbst nicht zu dieser Offenheit gefunden, die ihn ins Leben zurückgebracht hat. Er weiß auch schon, wie er gerne heißen würde: Bob. Nach Dr. Bob aus dem Gründungsmythos der AA. Und trotzdem ist er nicht sicher. Ist das angemessen, dass er, der Normal-Alkoholiker aus Bremen, den Namen eines der beiden Urväter der Bewegung annimmt? "Da fängt der Größenwahn wieder an", sagt er und lächelt unsicher.

Rund 3000 Männer und Frauen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz sind am Wochenende in der Bremer Stadthalle zusammengekommen, um ihre Erfahrungen im Kampf um die Trockenheit auszutauschen. Es hätten auch mehr sein dürfen, finden die Anonymen Alkoholiker. Sie beobachten einen Teilnehmerrückgang. Genauso wie die Non-Profit-Organisation, die parallel zu den AA gewachsen ist und ebenfalls in der Bremer Stadthalle ihr Jahrestreffen abhielt: die Selbsthilfegruppe Al-Anon für die Angehörigen Alkoholabhängiger. "2004 hatten wir 900 Gruppen, jetzt haben wir 600", sagt Hartmut Große, Geschäftsführer von Al-Anon Deutschland. Und Bob sagt für die AA: "Vor Jahren waren wir beim Jahrestreffen viereinhalbtausend, davor 5000."

Schwer zu sagen, woran das liegt. Vielleicht an der Bequemlichkeit, die das Internet mit seinen Online-Foren fördert. Vielleicht spiegelt die Entwicklung einen Trend. "Es gibt immer weniger gesellschaftliches Engagement", findet Große. "Ich glaube, die Leute sind weniger bereit, was zu tun", ergänzt Bob.

Das Problem Alkoholismus ist jedenfalls nicht kleiner geworden. 9,5 Millionen Menschen in Deutschland "konsumieren Alkohol in gesundheitlich riskanter Form", meldet Marlene Mortler, die Drogenbeauftragte der Bundesregierung auf ihrer Internetseite. "Etwa 1,3 Millionen gelten als alkoholabhängig. Jedes Jahr sterben in Deutschland 74 000 Menschen an den direkten und indirekten Folgen ihres Alkoholmissbrauchs." Das Phänomen umfasst die ganze Gesellschaft, das sieht jeder, der beim Jahrestreffen durch die Tagungsräume streift. Die Alkoholsucht hat viele Gesichter, alte, junge, runde, kantige, gezeichnete, schöne. Sie kann jeden treffen. Und der Redebedarf bei jenen, die stark genug zum Aufhören waren, ist groß - das kann man aus der schonungslosen Ehrlichkeit ableiten, mit der sie in Meetings und persönlichen Gesprächen ihre sehr unterschiedlichen Geschichten aufarbeiten.

Das Prinzip der AA ist einfach. Zwei amerikanische Trinker haben es 1935 in Akron, Ohio, entwickelt: der New Yorker Börsenmakler William Griffith Wilson, den die AA-Gemeinde nur "Bill W." nennt, und der Arzt Robert Holbrook Smith ("Dr. Bob"). Die beiden stellten fest, dass Reden sie vom Trinken abhält und machten daraus eine Bewegung, die heute weltweit Anhänger hat. Die AA halten sich möglichst frei von gesellschaftlichen Verpflichtungen und Abhängigkeiten: Hierarchien sind verpönt, staatliche Förderung oder Sponsorengeld lehnen sie ab. Spenden sind ihre Haupteinnahmequelle, die 85 000 Euro für das Jahrestreffen in Bremen speisen sich aus der Teilnahmegebühr für die drei Tage (30 Euro).

Die AA wollen überparteilich und überkonfessionell sein. Trotzdem wirken sie wie eine Religionsgemeinschaft. Orientierung geben eine Art Ratschläge-Kanon mit "zwölf Schritten", das sogenannte Blaue Buch, sowie ein ritualisierter Ablauf der Meetings. Am Anfang verliest jemand die Präambel der AA. Dann treten abwechselnd jene vor, die etwas erzählen wollen. Kurze Vorstellung: "Ich bin Bob, Alkoholiker." Die Gemeinde antwortet: "Hi Bob." Dann hört sie zu, bis der Redner unter Applaus abtritt. Diskussionen gibt es nicht. Am Ende des Meetings fassen sich alle an den Händen und sprechen den Gelassenheitsspruch: "Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann . . ." - "Als ich zum ersten Mal so ein Meeting gemacht habe, habe ich gedacht, das ist eine Sekte", sagt Bob. Aber der einzige Gott, an den alle glauben müssen, ist die Nüchternheit, die sich jeden Tag um weitere 24 Stunden verlängern soll. "Wir sind eine Gemeinschaft von Männern und Frauen, die Erfahrung, Kraft und Hoffnung teilen", zitiert Bob die Präambel. "Jeder ist willkommen, der nicht mehr trinken will. Das ist alles."

Eine Flasche Weinbrand und sechs Flaschen Bier am Tag - für Bob war das ganz normal

Bei Bob hat es funktioniert. Früher war Alkohol seine Medizin gegen Selbstzweifel und Unsicherheit. Zu seinem Alltag gehörten eine Flasche Weinbrand und sechs Flaschen Bier, falsche Versprechungen sowie der Größenwahn zu glauben, die Sucht im Griff zu haben. Die Ehe ging kaputt. Er landete auf der Straße. Was er als Maurer verdiente, wurde für Unterhaltszahlungen gepfändet. Dann lernte er durch Zufall einen Neurologen kennen. Er kam in die Suchtklinik. Traf die Anonymen Alkoholiker und verstand, dass er jeden Tag aufs Neue der Versuchung widerstehen muss.

Seit 36 Jahren ist Bob trocken, dieses Jahr wird er 70, und er passt wirklich sehr auf, dass ihn nicht mehr der Hochmut des Trinkers packt. Ist es wirklich okay, dass er sich wie der große Dr. Bob nennt? Er überlegt. Er entscheidet: Es ist okay, weil dieses Pseudonym eine Verneigung sein soll vor den Männern, die mit der einfachen Einsicht, dass man seine Schwäche annehmen muss, einen Weg aus der Sucht geebnet haben. "Ich habe eine unwahrscheinliche Hochachtung vor den AA-Gründern", sagt Bob, der eigentlich nicht Bob heißt.

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