Aids:Im Schatten des Tabus

Trotz steigender Zahlen werden HIV-Infizierte in Russland weiter stigmatisiert. Initiativen wie die Wahl der "Miss Positive" sollen das ändern.

Frank Nienhuysen

Verloren in ihren Gedanken und auch etwas traurig schaut Swetlana Isambajewa aus dem Fenster, dabei hat sie gerade erst einen wichtigen Schönheitswettbewerb gewonnen. Es war ihr erster, und lange hat sie mit sich gerungen, ob sie überhaupt teilnehmen sollte.

Aids: "Miss Positive" Svetlana Isambajeva.

"Miss Positive" Svetlana Isambajeva.

(Foto: Foto: Reuters)

24 Jahre ist Swetlana Isambajewa alt, eine hübsche blonde Frau aus der russischen Republik Tschuwaschien, seit drei Jahren mit dem HI-Virus infiziert, seit Donnerstag "Miss Positive" von Russland.

Die Moscow Times schrieb, mit Swetlana Isambajewa habe Aids in Russland ein öffentliches Gesicht bekommen. Zeit wurde es. Viele Jahre ist das Thema von der Politik und der Gesellschaft in Russland behandelt worden, als sei es gar nicht vorhanden. Und diejenigen Infizierten, die es natürlich doch gab, wurden stigmatisiert. Mal mehr, mal weniger.

Ausgegrenzt

So ist es noch immer. Selbst infizierte Schwangere und Mütter müssen leiden; häufig würden ihre Kinder ausgegrenzt, obwohl es dafür keine medizinischen Gründe gebe, berichtet die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch.

So schonungslos wie die Gesellschaft aber sind auch die Statistiken von UN-Aids: Zwei Drittel aller HIV-Infizierten in Europa leben allein in Russland. Wie fast überall waren es zuerst die Drogensüchtigen, die Schwulen, die Prostituierten. Dann hat das Virus alle Gesellschaftsgruppen erfasst, nicht aber das Bewusstsein der politischen Klasse.

Im Schatten des Tabus

"Russland hat das Thema Aids viel zu lange tabuisiert und deshalb der Epidemie Tür und Tor geöffnet", sagt der Aids-Experte Frieder Alberth, der unablässig in Osteuropa für den Kampf gegen die Immunschwächekrankheit wirbt. "Das russische Aids-Zentrum in Moskau hat etwa eine Million Patienten, obwohl es offiziell nur 100.000 Infizierte gibt."

Bemerkenswerte Anti-Aids-Konvention

Nun aber scheint das Bollwerk der Ignoranz langsam zu fallen. Bereits im Juli verabschiedete die russisch-orthodoxe Kirche eine bemerkenswerte Anti-Aids-Konvention. Sicher, sie predigte wider den Sittenverfall. Aber sie rief in einem Grundsatzpapier die Kirchengemeinden auch dazu auf, sich um die mit HIV infizierten Menschen zu kümmern. Das war neu.

Und nun erhielt auch noch Russlands Regierung zum Welt-Aids-Tag am Donnerstag ungewöhnliches Lob von Nichtregierungsorganisationen. "Danke schön", nannten die Aids-Gruppen ihre Kampagne.

Grund ist, dass Präsident Wladimir Putin seit diesem Jahr die Aids-Bekämpfung deutlich ernster nimmt. Für 2006 kündigte er eine Erhöhung des Budgets um das 20- bis 30-fache an. Für 2005 hatte er etwa vier Millionen Euro bereitstellen lassen.

Keine vernünftige Koordination

Der Chef des nationalen Aids-Zentrums, Wladimir Pokrowskij, kritisierte in der Moscow Times dennoch, dass es noch immer "keine vernünftige Koordination zwischen Regierung, nationalen Organisationen und dem Ausland" gebe. "Ohne eine langfristige Strategie könnte es sein, dass das Geld ganz umsonst ausgegeben wird. Und zwar ziemlich schnell."

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