Süddeutsche Zeitung

Afghanistan:Verloren am Flughafen von Kabul

Im August wurde der zwei Monate alte Sohail Achmadi im Chaos von Kabul von seiner Familie getrennt. Monatelang wussten sie nicht, ob ihr Sohn lebt. Doch nun sieht alles nach einem glücklichen Ende aus.

Von Tomas Avenarius, Istanbul

Kabul im August 2021, Chaos und Leid, unvergessene Bilder. Abertausende Afghaninnen und Afghanen drängen sich vor dem Flughafen der Hauptstadt, stauen sich in dichten Trauben an den Toren, während westliche Soldaten in die Luft schießen, die Massen vom Sturm auf den Airport abhalten. Gleichzeitig heben in rascher Folge riesige Militärmaschinen mit Hunderten Flüchtlingen an Bord ab, Menschen auf der Flucht vor den Taliban. Und in all dem Durcheinander ein Mann, der ein zwei Monate altes Baby in den Händen hält, es einem US-Soldaten hoch oben auf der Mauerkrone entgegenstreckt.

Damit brach damals die Geschichte ab. Jetzt findet sie ein Ende, ein rundum glückliches voraussichtlich. Das Kind, ein Junge namens Sohail Achmadi, war seitdem verschollen. Jetzt wurde bekannt, dass es wieder aufgetaucht ist, lebend, in Kabul. Und wenn alles gut geht, wird er demnächst wieder bei seinen Eltern sein. Die leben inzwischen in den USA, in Michigan.

Die Nachrichtenagentur Reuters hatte monatelang nach dem Kind gesucht, nach einem der vielen, die in den Wirren von Kabul von ihren Eltern getrennt wurden. Die Geschichte des Jungen liest sich wie eine Mischung aus Krimi und Abenteuerroman. Der Vater Mirza Ali Achmadi, der jahrelang für die US-Botschaft gearbeitet und eine Ausreisezusage hatte, war bei der großen Flucht mit seiner Frau Soraya und den fünf Kindern am 19. August an den Flughafen gekommen. Im Gedränge konnten sie nicht bis zum Eingangstor vordringen. Als die Taliban dann die Menschen mit Stöcken zurückscheuchten, fürchtete der Vater, der Säugling könnte in dem Chaos in seinen Armen erdrückt werden: Er reichte den Jungen in seiner Verzweiflung dem US-Soldaten hoch.

Die Familie flog ohne ihn in die USA

Später schaffte es auch der Rest der Familie, in den Flughafen zu gelangen. Das Baby aber war weg. Unauffindbar, im Durcheinander spurlos verschwunden. Dass die Familie überhaupt ohne Kind wegflog, hatte einen Grund: Das US-Militär war sich ganz sicher, dass der Junge bereits ausgeflogen worden war und der Familie in den USA sofort übergeben werde.

Doch bei der Ankunft in Texas war das Kind nicht zu finden. Die Familie, inzwischen nach Michigan übergesiedelt, wusste monatelang nicht, ob der Junge lebt, ob er je in den USA angekommen oder doch noch in Afghanistan war.

Jetzt wurde bekannt, dass Sohail in Kabul gefunden worden ist, bei einer fremden Familie, offenbar gesund und mit einem anderen Namen. Ein Taxifahrer namens Hamid Safi hatte das weinende Kleinkind am Flughafen auf dem Boden liegen sehen, der völlig überforderte US-Soldat auf der Mauer hatte es offenbar dort hingelegt. Ob es Verantwortungsbewusstsein, Mitleid oder eine Art Entführung war: Der Taxifahrer, Vater dreier Mädchen, nahm den Jungen mit nach Hause, nannte ihn Mohamed Abed und zeigte laut dem Guardian stolz den angeblichen Sohn auf Facebook: "Ich habe gedacht, wenn die Familie auftaucht, gebe ihn zurück. Und wenn nicht, dann erziehe ich ihn wie meinen eigenen Sohn."

Nachdem die Agentur Reuters die Geschichte des vermissten Babys veröffentlich hatte, fiel den Nachbarn auf, dass der Taxifahrer Safi einen Jungen aufzog, der nicht sein eigener war. Safi hat nur die drei Töchter. Und in Afghanistan ist ein Sohn ein Muss für jeden Vater. Der 29-Jährige gab dann später im Fernsehen auch unumwunden zu, dass er den weinenden Säugling vom Flughafen mitgenommen habe. Er habe aber nur das Beste gewollt.

Zurück bei seinen Eltern ist der sieben Monate alte Sohail alias Mohamed Abed aber noch immer nicht. Vorerst lebt er noch bei seinem afghanischen Großvater, das US-Außenministerium bemüht sich um seine Ausreise. Nicht in die USA fliegen wird hingegen mit ziemlicher Sicherheit der Taxifahrer Hamid Safi: Er hatte sich anfangs geweigert, das Kind zurückzugeben - und im Gegenzug gefordert, dass auch er mit seiner Familie in die USA dürfe.

Anmerkung der Redaktion: In der ursprünglichen Bildunterschrift hieß es, das Baby auf dem Foto am Flughafen sei Sohail Achmadi. Das ist wohl nicht der Fall.

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