Ärztepfusch in Heilbronn:Neues von Dr. Frankenstein

Falsche Diagnosen, unnötige Operationen, unterschlagene Spenden: In Heilbronn praktizierte ein Mann mehrere Jahre als Neurologe, obwohl er in den Niederlanden als "Horrorarzt" bekannt war. Wie konnte der Betrüger so lange Zeit unbehelligt in Deutschland arbeiten?

Von Judith Liere und Martin Winter

Irgendwie versteht die niederländische Gesundheitsministerin Edith Schippers die Welt nicht mehr. So ein System sei doch "ganz schrecklich", in dem ein holländischer Kurpfuscher in Deutschland weiter praktizieren darf, obwohl er in seiner Heimat wegen schwerer Vergehen aus der Liste der Ärzte gestrichen worden ist.

Nachdem holländische Reporter den Neurologen Ernst J. S. in der vergangenen Woche am Krankenhaus Am Gesundbrunnen in Heilbronn aufgestöbert hatten, fragen sich nicht nur die Holländer, wie einer, gegen den das, wie der Richter selber sagt, größte medizinische Strafverfahren in der Geschichte der Niederlande geführt wird, jahrelang unbehelligt in Deutschland arbeiten konnte.

So richtig befriedigende Antworten hat gegenwärtig keiner der Beteiligten parat. Nachdem die Klinik den Arzt am Freitag fristlos entlassen und sich "geschockt" gezeigt hatte, stellte sich am Montag heraus, dass es vermutlich schon im Jahr 2011 eine Warnung gab. Die aber habe die Geschäftsleitung des Heilbronner Krankenhauses nicht erreicht.

Sehr genau scheint man es schon bei der Einstellung des Neurologen nicht genommen zu haben, der von einer Agentur für Fachkräfte vermittelt worden war. Eine einfache Recherche über Google hätte die Heilbronner darüber informieren können, mit wem sie es da zu tun haben, meint Schippers.

21 Fälle von schwerer Körperverletzung

Nun soll ein Mitarbeiter der Neurologie in Heilbronn zwar genau das einmal versucht, aber nichts gefunden haben, wie die Tageszeitung Volkskrant berichtet. Das ist verwunderlich, denn seit September 2009 findet sich im Internet unter anderem ein Beitrag von Radio Nederland auf Englisch über den "erschreckenden" Bericht einer Kommission, die die Vorwürfe gegen den Arzt in den Niederlanden untersucht hatte. Auf der Grundlage dieses Berichtes wurde Anklage gegen den Arzt erhoben, und der Prozess wurde am 28. November in Almelo eröffnet.

J. S. werden mindestens 21 Fälle von schwerer Körperverletzung vorgeworfen. Er soll bei Patienten fälschlich Alzheimer, Parkinson oder Multiple Sklerose diagnostiziert und sie dann mit Medikamenten behandelt haben, die starke Nebenwirkungen auslösen. 13 Menschen sollen unnötigerweise am Gehirn operiert worden sein. Eine Patientin soll nach solch einer falschen Diagnose Selbstmord begangen haben. Außerdem habe der Arzt Rezepte gestohlen und gefälscht und mehr als 80.000 Euro Spenden unterschlagen. Ihm wird zudem vorgeworfen, ohne Zustimmung von Angehörigen Leichen obduziert zu haben.

Der Anwalt Yme Drost, der 198 geschädigte Patienten vertritt, erzählt, dass J. S. einer 20-Jährigen, die wegen eines Autounfalls ins Krankenhaus eingewiesen wurde, eine Form von Jugend-Alzheimer diagnostiziert haben soll. Außerdem habe er Patienten Diagnosen an falschen Röntgenbildern gestellt und Tests, die Erkrankte vor der Einnahme starker Alzheimer-Medikamente absolvieren müssen, selbst ausgefüllt.

Niederländer fordern europäische schwarze Liste

Warum der Neurologe derartig viele und schwerwiegende Fehldiagnosen gestellt hat - auch darauf scheint es noch keine befriedigende Antwort zu geben. In den Boulevard-Medien wird er "Doktor Frankenstein" genannt, ehemalige Patienten beschreiben ihn als "lieben, netten Menschen". Auch Opfer-Anwalt Drost, der selbst vor längerer Zeit einmal Patient von J. S. war, kann sich das Verhalten des Mediziners nicht recht erklären. "Wenn mich damals jemand gefragt hätte, ob ich einen guten Arzt kenne, mit dem man reden kann, der sich Zeit nimmt - ich hätte ihn empfohlen", sagt Drost.

Ernst J. S. selbst sei medikamentenabhängig, heißt es in mehreren Berichten. Außerdem habe er sich Anfang der Neunziger Jahre einen zweiten Nachnamen zugelegt, so Drost. "In Holland sind die meisten Menschen mit Doppelnamen von Adel", sagt der Anwalt. "Es gibt außerdem Aussagen von ihm in meinen Akten, in denen er sich als Professor Doktor bezeichnet, dabei hat er gar keinen Professorentitel." Ein wenig klingt das nach Hochstapler-Syndrom.

Unter dem Druck erster Ermittlungen gegen ihn hatte J. S. Ende 2003 das Krankenhaus in Enschede verlassen, an dem er seit 1996 gearbeitet hatte. Außerdem ließ er sich aus der niederländischen Ärzteliste streichen. Womit er aber nicht seine medizinischen Diplome verlor, die dann Grundlage für seine Approbation in Deutschland wurden.

Die niederländische Regierung drängt bei ihren europäischen Partnern nun darauf, eine europaweite schwarze Liste zu schaffen, damit Fälle wie diese nicht mehr vorkommen. Allerdings wird schon seit einiger Zeit zwischen Kommission und Mitgliedstaaten darüber diskutiert, im Rahmen der gegenseitigen Anerkennung von Berufsabschlüssen ein System zum Austausch von Informationen zwischen den Mitgliedsländern zu schaffen. Eine Liste etwa, aus der zu entnehmen ist, ob einem Mediziner irgendwo in der EU schon einmal die Zulassung entzogen wurde - damit Google nicht das einzige Recherchemittel bleibt.

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