Adoptionen in Kanada:Wunschkinder aus der Kälte

Viele Inuit in Kanadas Territorium Nunavut "verschenken" ihren Nachwuchs an kinderlose Weiße. Der Kontakt zu ihren leiblichen Eltern bleibt meist bestehen.

Bernadette Calonego

Ian Roberts ist eines der Adoptivkinder, die aus der Kälte kommen: aus dem kanadischen Eskimo-Territorium Nunavut. Für kinderlose weiße Eltern im Osten Kanadas ist Nunavut zum Paradies ihrer unerfüllten Träume geworden.

Inuitkinder; AFP

Sind bei Weißen in Kanadas geburtenarmem Osten beliebt: Inuitkinder.

(Foto: Foto: AFP)

Denn dort ist bis heute die unkomplizierte Adoption eine uralte Eskimo-Tradition, die beim Überleben in der Arktis hilft. Ian Roberts war 1999 das erste Adoptivkind, das nach der Bildung von Nunavut als selbständiges Territorium seinen Weg in den Osten fand - zur Beamtin Paula Roberts und ihrem Mann Bert, die in der Provinz Neufundland leben.

Während im Osten Kanadas Eltern bis zu 14 Jahre auf ein Adoptivkind warten, ging es mit Ian schnell: Vom ersten Kontakt mit der schwangeren Eskimo-Mutter bis zur Adoption dauerte es rund drei Wochen. Die Mutter brauchte für ihre Entscheidung weder den Dienst einer Adoptionsagentur noch die Vermittlung der Sozialbehörden. "Es handelte sich um eine private Adoption", sagt die 41-jährige Paula Roberts. Allerdings musste die Adoption durch die Behörden von Neufundland und von Nunavut genehmigt werden.

Adoption ohne Behörden und Bürokratie

Die Roberts trafen die leibliche Mutter nur kurz: "Wir vereinbarten, dass wir immer in Kontakt mit ihr bleiben und regelmäßig Fotos von Ian schicken würden." In den vergangenen sechs Jahren, so berichtet die Zeitung The National Post, seien mehr als hundert Kinder der Inuit, wie die kanadischen Eskimos genannt werden, von weißen Familien vornehmlich im Süden und Osten Kanadas adoptiert worden.

Nunavut hat die höchste Geburtenrate in ganz Kanada - in den Jahren 2006 und 2007 entfielen 24 Geburten auf 1000 Einwohner, das ist mehr als doppelt so hoch wie der Landesdurchschnitt von 10,8 Geburten. Neufundlands Rate beträgt dagegen nur 8,5 Geburten. Bei den kanadischen Inuit sind Adoptionen Teil ihrer tausendjährigen Tradition.

Kinder werden innerhalb der Inuit-Gemeinschaft häufig an unfruchtbare Frauen verschenkt oder an Großmütter, deren Kinder erwachsen sind. Die von den Behörden anerkannte traditionelle Adoption unter den Inuit geschieht ohne Papiere und Bürokratie, und sie gilt, wenn das Kind an die Adoptiveltern übergeben wird.

Die Inuit-Kinder wissen stets, dass sie adoptiert sind. Für sie gibt es ein eigenes Eskimo-Wort: "tiguaq". Der Kontakt zu ihren natürlichen Eltern bleibt in der Regel bestehen. Diese Adoptionen haben unter den harten Lebensbedingungen in der Arktis den Vorteil, dass ein Kind sich auf mehrere Bezugspersonen stützen kann, was sein Überleben sichert.

In Nunavut arbeiten viele Frauen und Männer aus Neufundland oder anderen Atlantikprovinzen als Lehrer, Krankenschwestern oder Baufachleute. Dadurch entstehen enge Kontakte zur Inuit-Bevölkerung. Über diese Kontaktpersonen suchen Inuit-Mütter, viele von ihnen noch minderjährig, weiße Adoptiveltern für ihre Babys.

So geschah es auch im Fall von Nathan und Carolyn Norman, einem Verkäufer und einer Krankenschwester aus Neufundland. Eine schwangere 24-jährige Inuit-Mutter, die bereits drei Kinder hatte und nicht mit deren Vater verheiratet war, kontaktierte die Normans über eine Bekannte. Die Adoption wurde während eines Telefonats vereinbart, und drei Monate später holten die Normans ihren Adoptivsohn Tyler auf dem Flughafen von Nunavuts Hauptort Iqaluit ab.

Der leibliche Vater übergab dem Adoptivvater den neun Tage alten Säugling mit dem Worten: "Hier, Dad, hier ist dein Sohn." Die Richtlinien des Gesundheits- und Sozialministeriums von Nunavut verlangen für weiße Adoptiveltern aus anderen Provinzen allerdings eine Überprüfung des Adoptionsprozesses durch die Behörden.

Yasmina Pepa, Sprecherin des Ministeriums, betont, dass es keinen Massenexodus von Inuit-Babys aus Nunavut gebe: "Im vergangenen Jahr waren es nur etwa fünfzehn Adoptivkinder." In Neufundland treffen sich die Familien adoptierter Inuit-Kinder jedes Jahr und lassen während drei Tagen Inuit-Bräuche auferstehen, "traditionelle Spiele wie Eulenhüpfen oder Robbenkriechen", erzählt Paula Roberts.

Paula Roberts sagt, dass sich alle Familien bemühten, den Kontakt ihrer Kinder zur Inuit-Kultur zu ermöglichen: "Unser Sohn war vier Jahre alt, als er zum ersten Mal auf die Elch-Jagd ging." Mit seiner Ursprungsfamilie in Nunavut ist der heute acht Jahre alte Ian in Kontakt. Seine Adoptiveltern wollen ihm später auch Nunavut zeigen. Ian übt sich derweil in einer uralten Inuit-Tradition: dem Kehlkopfsingen.

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