Nach der höchst umstrittenen Entscheidung des Supreme Courts Ende Juni, das seit 1973 in den USA geltende bundesweite Recht auf Abtreibung zu kippen, ebbt die Diskussion nicht ab. Die Geschichte eines zehnjährigen Mädchens, das eine Abtreibung vornehmen ließ, beschäftigt derzeit das ganze Land, zeigt der Fall doch, welche Konsequenzen die Entscheidung des höchsten Gerichts hat.
Das Kind wurde Medienberichten zufolge schwanger, weil es mutmaßlich von einem 27-jährigen Mann vergewaltigt wurde. Die Zehnjährige musste aus Ohio in den benachbarten Bundesstaat Indiana reisen, um dort die Schwangerschaft abzubrechen. Ohio hat eines der strengsten Abtreibungsgesetze, das auch bei Fällen von Vergewaltigung und Inzest einen legalen Schwangerschaftsabbruch nach der fünften bis sechsten Woche unmöglich macht. Einige republikanische Politiker und auch Medien wie das Wall Street Journal bezweifelten die Echtheit des Falles zunächst; am Mittwoch aber bestätigten die Behörden in Ohio die Geschichte und teilten mit, dass ein 27-jähriger Tatverdächtiger festgenommen und angeklagt wurde, der gestanden habe.

Abtreibungsdebatte in den USA:Joe Biden wird emotional
Der US-Präsident reagiert empört auf Nachrichten, dass ein zehnjähriges Mädchen nach einer Vergewaltigung in ihrem Heimatstaat keine Abtreibung erhielt. Doch eine Handhabe dagegen hat er kaum.
Die Ärztin wird als "Abtreibungsaktivistin" geschmäht - sie könnte ihre Approbation verlieren
Auch im Bundesstaat Indiana wird der Fall nun juristisch relevant. Am Mittwoch sagte Todd Rokita, der Generalstaatsanwalt von Indiana, beim Sender Fox News, dass er gegen die Ärztin ermitteln wolle, die die Abtreibung bei dem Mädchen durchführte. Die Ärztin habe, so der Vorwurf, den Schwangerschaftsabbruch nicht bei den zuständigen Behörden gemeldet. In Indiana sind Ärztinnen und Ärzte verpflichtet, innerhalb von drei Tagen einen Bericht abzugeben, wenn sie Abtreibungen vornehmen. Über ihre Anwältin wies die Ärztin den Vorwurf zurück; ein Bericht der New York Times stützt diese Aussage. Ihr liegt der entsprechende "Terminated Pregnancy Report" vor, der über den Schwangerschaftsabbruch informiere und fristgerecht bei den zuständigen Behörden eingereicht worden sei.
In dem Interview bei Fox bezeichnete Rokita die Ärztin als "Abtreibungsaktivistin" und kündigte an, so viele Beweise sammeln zu wollen, bis sie ihre Lizenz als Ärztin verliere würde. Der New York Times sagte ein Sprecher, Rokita wolle trotz des vorliegenden Dokuments weiter nach Beweisen suchen.

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Das Weiße Haus sprang der Ärztin zur Seite. "Ermittlungen gegen eine Ärztin, die einem zehnjährigen Vergewaltigungsopfer zu einer legalen Abtreibung verholfen hat. Das ist extrem", sagte die Sprecherin des Weißen Hauses, Karine Jean-Pierre, am Donnerstagabend. Dies sei die Welt, die sich gewählte Republikaner wünschen würden.
Unterstützung bekommt die Ärztin vom Präsidenten, der zuvor für seine zögerliche Reaktion kritisiert wurde
Der Fall zeigt, wie schwierig es in den USA geworden ist, legale Abtreibungen zu bekommen oder sie vorzunehmen. Die Ärztin, die den Schwangerschaftsabbruch bei dem zehnjährigen Mädchen vornahm, schrieb bei Twitter, ihr Herz breche, wenn sie an die Opfer von Vergewaltigung denke. "Ich bin so traurig, dass unser Land sie im Stich lässt, wenn sie uns am meisten brauchen. Ärzte müssen in der Lage sein, den Menschen die medizinische Versorgung zukommen zu lassen, die sie benötigen, wann und wo sie sie benötigen."
Schon vergangene Woche hatte der Fall hohe Wellen geschlagen. Präsident Joe Biden hatte in einem emotionalen Statement seine Betroffenheit und Wut zum Ausdruck gebracht. "Ein zehnjähriges Mädchen wurde Opfer einer Vergewaltigung in Ohio - zehn Jahre alt", sagte er. "Sie wurde gezwungen, in einen anderen Staat zu reisen, um ihre Schwangerschaft zu beenden und vielleicht ihr Leben zu retten. Stellen Sie sich mal vor, dieses kleine Mädchen zu sein. Zehn Jahre alt", betonte er. Ein solches Mädchen dazu zu zwingen, das Kind seines Vergewaltigers zu gebären, gehöre zum Extremsten, was er sich vorstellen könnte.
Zuvor hatte es Kritik an Bidens zögerliche Reaktion auf das gekippte Abreibungsrecht gegeben. Zwei Wochen benötigte er, um eine Antwort auf die neuen strengen Abtreibungsregeln in etlichen Bundesstaaten zu finden. Am vergangenen Donnerstag unterzeichnete er dann ein Dekret, das unter anderem den Zugang zu medikamentösen Schwangerschaftsabbrüchen und die medizinische Notfallversorgung für Frauen sicherstellen soll. Zudem soll es kostenlose Rechtsberatung für Frauen geben, die wegen einer Abtreibung juristische Schwierigkeiten bekommen. In einigen Bundesstaaten ist es möglich, dass sich Frauen nach einer Fehlgeburt vor den Strafverfolgungsbehörden verantworten müssen. Es ist aber offen, wie wirkungsvoll das Dekret von Biden tatsächlich sein wird, da es die Bundesstaaten mit ihren eigenen, strengeren Abtreibungsgesetzen unterlaufen können.