Absturz der Air France 447:Ratlos im freien Fall

Die Extremsituation in 11.500 Metern Höhe hat nach ersten Erkenntnissen vor zwei Jahren die Piloten eines Air-France-Airbus überfordert. Das meint zumindest die französische Behörde, die den Todesflug AF 447 untersucht. Air France sieht das anders.

Nicolas Richter

Nachts um 2 Uhr 11 und 43 Sekunden eilt der Kapitän nach einer Pause ins Cockpit zurück. "Hey, was macht Ihr denn?", fragt er. Seine Maschine ist da schon im freien Fall.

Was los ist? "Ich weiß nicht, ich weiß nicht, was los ist", entgegnet einer der beiden jungen Kopiloten, die am Steuer sitzen. Mehr erfährt der Kapitän erstmal nicht von seiner Crew, nichts über die bisherigen Ereignisse. Er stellt auch keine Fragen. Er ahnt nur, dass die Maschine irgendwie außer Kontrolle ist. Immer wieder ertönt das Warnsignal, dass die Strömung an den Flügeln abreißt. "Was meinst Du, was meinst Du, was soll man machen?", fragt ein Pilot, und der Kapitän antwortet: "Ich weiß jetzt nicht, es geht runter."

Die Aufzeichnung der letzten Minuten im Cockpit offenbart, wie rat- und orientierungslos die Besatzung von Flug Air France AF 447 in der Nacht zum 1. Juni 2009 dem Atlantischen Ozean entgegenstürzte. Sie wussten nicht mehr, welchen Angaben auf den Instrumenten sie noch glauben sollten. "Das gibt es nicht", sagt einmal der Kapitän, der hinten im Cockpit sitzt und helfen will, sich aber auf nichts mehr einen Reim machen kann. Weniger als drei Minuten nach seiner Rückkehr, um 2 Uhr 14 und 28 Sekunden, schlägt der Airbus A330 auf dem Wasser auf. Keiner der 228 Menschen an Bord überlebt.

Wussten die Piloten überhaupt, was mit ihnen passierte? Die Pariser Flugunfall-Untersuchungsbehörde (BEA) hat am Freitag ihren dritten Zwischenbericht veröffentlicht und damit auch den Inhalt der Flugschreiber, die im Frühjahr im Meer gefunden wurden. Die BEA macht jetzt vor allem die Piloten für die Katastrophe verantwortlich. Sie wirft der Besatzung vor, zu wenig miteinander geredet zu haben, sodass keiner im Cockpit die Analyse des jeweils anderen kannte, schon gar nicht der Kapitän. Die BEA bezweifelt sogar, dass die Piloten begriffen hatten, was passierte. Weil einer von ihnen in großer Höhe die Maschine zu sehr in den Steigflug gebracht hatte, war die Strömung an den Flügeln abgerissen und die Maschine befand sich im freien Fall. Ein wiederholtes Alarmzeichen im Cockpit warnte zwar, dass die Strömung abriss. Doch brachte niemand im Cockpit dies oder eine mögliche Lösung des Problems zur Sprache. Niemand ließ erkennen, dass er den Alarm überhaupt wahrgenommen hatte. Zeitweise gab es sogar gegensätzliche Steuerbefehle.

Die BEA hat nun eine neue Sicherheitsempfehlung herausgegeben an die Luftfahrtbehörden: Sie sollten dafür sorgen, dass Piloten besser geschult würden für Notfälle dieser Art; dass sie die "manuelle Steuerung" des Flugzeugs regelmäßig übten und den Umgang mit drohendem Strömungsabriss lernten. Die BEA wendet sich damit einer Gefahr zu, die in der Branche seit Jahren beklagt wird: Moderne Maschinen sind so automatisiert, dass jene, die am Steuer sitzen, schlicht das Fliegen verlernen. Was sich auf Flug AF 447 ereignet hat, war kein völlig unbeherrschbares Ereignis - ein kaltblütiger Pilot hätte die Maschine womöglich aus der Gefahr herausfliegen können. Den Piloten von AF 447 gelang das nicht.

Air France nimmt die Besatzung in Schutz

Gegen diesen erwarteten Befund der BEA hatten Angehörige in Frankreich und Deutschland sowie Pilotengewerkschaften schon vor der Veröffentlichung protestiert. Der deutsche Hinterbliebenenverband "HIOP AF447" kritisierte die Festlegung auf einen Pilotenfehler und vermutet, dass auch die womöglich fehlerhafte Software an Bord eine Rolle gespielt haben könnte.

Die Technik ist zumindest mit ursächlich für den Absturz. Minuten vor dem Ende war es zu einer schweren Panne gekommen, die die Unglückssequenz erst einleitete. Die an der Außenhaut angebrachten "Pitot-Röhrchen" zur Messung der Geschwindigkeit waren vereist. Weil keine Messung mehr möglich war, schalteten sich Autopilot und Schubsteuerung ab, etliche Systeme fielen aus. Daraufhin steuerte der jüngste und unerfahrenste Pilot im Cockpit die Maschine von Hand, weil es der Kapitän vor seiner Ruhepause versäumt hatte, die Aufgaben klar zwischen seinen beiden Kollegen aufzuteilen. Außerdem hatten die beiden jüngeren Piloten nie eine spezielle Schulung erhalten, um mit dem Problem unzuverlässiger Geschwindigkeitsmessung in großer Höhe und plötzlich notwendiger manueller Steuerung umzugehen.

Das ist umso erstaunlicher, als es in den zwölf Monaten vor der Katastrophe immer wieder schwere Zwischenfälle auf Airbus-Maschinen in dieser Höhe gegeben hatte. Besonders die Pitot-Röhrchen des französischen Typs Thales AA neigten dazu, zu vereisen und auszufallen. Statt aber das eindeutig zuverlässigere Modell der US-Firma Goodrich zu verwenden, verhandelte Air France über Monate mit Airbus über die Frage, ob und wie die Sonden zu ersetzen seien. Auch bei anderen Fluggesellschaften war das Problem aufgetreten, und in allen Fällen war es den Piloten gelungen, ihr Flugzeug sicher von Hand zu steuern, bis die Geschwindigkeitsmesser wieder funktionierten. Allerdings war zumindest aus der Sicht der Piloten klar, dass ein solches Ereignis, noch dazu nachts oder gepaart mit weiteren Pannen, auch verheerende Folgen haben könnte.

Air France und Airbus weisen sich seit dem Unfall die Schuld an der Katastrophe zu. Die Fluggesellschaft nahm am Freitag denn auch ihre Besatzung in Schutz; nichts deute darauf hin, dass es den Männern an technischer Kompetenz gefehlt habe. "Das ständige Ein- und Aussetzen des Strömungsabriss-Alarms . . . hat es der Besatzung erheblich erschwert, die Situation zu analysieren." Damit geht der Vorwurf zurück an den Hersteller Airbus. Der Ausfall der Geschwindigkeitssonden dauerte insgesamt nur eine Minute; aber er setzte eine fatale Ereigniskette in Gang, die niemand an Bord mehr stoppen konnte.

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