Abgestürzter Bergsteiger:Gefangen in der Gletscherspalte

Sechs Tage lang hat ein bayerischer Rentner nach einem Sturz in den Tiroler Alpen im Eis ausgeharrt. Seine starke Psyche und seine Abgeklärtheit hätten dem 70-Jährigen das Leben gerettet, sagen die Ärzte - und üben Kritik.

Oliver Hollenstein

Um nicht zu verdursten, sammelte er Tauwasser in einer Flasche. Um nicht ununterbrochen stehen zu müssen, baute er sich aus seinen Wanderstöcken einen Sitz. Tagsüber schrie er um Hilfe, nachts versuchte er, nicht einzuschlafen. Sechs Tage hat ein bayerischer Bergsteiger in den österreichischen Alpen nach einem 20 Meter tiefen Sturz in einer Gletscherspalte überlebt, ehe er gefunden wurde. Und die Ärzte sind verblüfft, wie gut der 70-Jährige das Drama überstanden hat.

70-jaehriger Bayer nach einer Woche aus Gletscherspalte gerettet

Fast eine Woche lang saß ein 70 Jahre alter Bergsteiger aus Bayern in dieser Gletscherspalte in den Stubaier Alpen fest. Am Dienstag wurde er gerettet.

(Foto: dapd)

Am Mittwoch vor einer Woche, um 7.30 Uhr, war der erfahrene Bergsteiger aus dem oberpfälzischen Schmidmühlen an der Hütte Westfalenhaus im Sellrain, im Westen der Stubaier Alpen, aufgebrochen. Sein Ziel: die Amberger Hütte, etwa fünf Stunden entfernt. Doch dort kommt er nie an. Erst an diesem Dienstagmorgen hören deutsche Wanderer am Gletscher des Schrankogels Hilfeschreie. Ein Rettungshubschrauber lokalisiert den Rentner, ein Rettungstrupp hievt ihn schließlich aus der schulterbreiten Spalte in 3000 Meter Höhe. Der Mann ist tropfnass, seine Körpertemperatur liegt bei nur noch 34 Grad, ansonsten ist er erstaunlich fit.

Ich war fast eine Woche da unten", habe der Rentner als erstes gesagt, berichtet Alpinpolizist Hansjörg Knoflach, der bei der Rettung als einer der ersten vor Ort war und den Rentner am Mittwoch im Krankenhaus besucht hat. "Wir haben gedacht, der spinnt, der hat seine zeitliche Orientierung verloren", sagt Knoflach. Doch inzwischen hat er keine Zweifel mehr: Der Hüttenwirt habe bestätigt, dass der Mann schon am Mittwoch aufgebrochen sei. "Er war wirklich sechs Tage da unten. Ein Wunder."

Drei bis vier Stunden nach dem Start seiner Wanderung, so schätzt die Polizei, sei der Wanderer aus Bayern in die Gletscherspalte eingebrochen. Knapp 20 Meter fällt er, stößt dabei in der schmalen Spalte aber wohl immer wieder an die Wände. Außerdem bremsen Schneebrücken seinen Fall, wodurch er sich nur relativ glimpflich verletzt: Er schürft sich Kopf und Hände auf, bricht sich die Hüfte. "Für einen Gletscherspaltensturz ist das eine leichte Verletzung", sagt der behandelnde Arzt im Innsbrucker Krankenhaus, Volker Wenzel.

In der Spalte landet der Mann auf einem knapp zwei Quadratmeter großen Vorsprung. "Links und rechts ging es noch weiter runter, von oben drohte ein Eisklotz abzustürzen", beschreibt Polizist Knoflach die Lage. Der Rentner habe sich dann einen Sitz gebaut und sich in Rettungsfolie eingewickelt. Sechs Tage und Nächte harrte er so aus, mal stehend, mal sitzend. Zwischendurch habe er immer wieder gedöst, aber versucht, nicht einzuschlafen, um nicht zu erfrieren, erzählte er Knoflach. "Ernährt hat er sich von einer Packung Kekse im Rucksack." Und tagsüber habe er um Hilfe geschrien, so lange es ging.

Kritik an dem Bergsportler

Unter Bergsteigern mischte sich nach der Rettung in die Freude über das Glück aber auch Kritik an dem Bergwanderer, der nach eigenen Angaben seit 30 Jahren regelmäßig in den Alpen unterwegs ist. Der Mann wanderte alleine, trug offenbar keine Steigeisen und war nicht angeseilt. Auf diese Weise dürfe man keinen Gletscher überqueren, sagte der Ausbildungsleiter der Tiroler Bergretter, Peter Veider. Kritik gab es auch daran, dass sich der Mann zwar in der Hütte Westfalenhaus ausgetragen, aber dort kein Ziel für seine Tour angegeben habe. Dadurch habe sich der Wirt auch nicht, wie üblich, am Abend erkundigt, ob der Wanderer in der nächsten Hütte angekommen sei. Auch seine Söhne vermissten den Mann nicht: Er hatte ihnen erzählt, er sei eine Woche in den Alpen wandern - ohne Handy.

Wie knapp das war, das wird ihm jetzt erst nach und nach bewusst", sagt Alpinpolizist Knoflach nach seinem Besuch im Krankenhaus. "Am Anfang hat er das alles relativ gelassen gesehen, dafür kommen jetzt die nachdenklichen Momente."

Gerade seine Abgeklärtheit hat dem Wanderer nach Ansicht seiner Ärzte - neben guten Schuhen und einer warmen Jacke - aber das Leben gerettet. "Er war gut organisiert, hat sich sofort seine Vorräte rationiert", sagt Mediziner Wenzel. "Er ist mental stark, hat die Hoffnung nie aufgegeben - das macht den Unterschied." In solchen Extremsituationen sei die Psyche der entscheidende Faktor.

Der Wunsch, seine beiden Söhne wiederzusehen, und sein Glaube hätten ihm Kraft gegeben, erzählte der Rentner seinem Arzt. Außerdem habe der Mann von heißem Tee und einem warmen Bad geträumt. Im Krankenhaus waren dann allerdings erstmal andere Dinge wichtiger. Auf die Frage, ob er sich etwas wünsche, habe der Rentner geantwortet: "Ich bin Bayer, am liebsten wäre mir jetzt eine Halbe Radler", erzählte Wenzel. Er habe ihn dann gefragt, ob er als Bayer nicht lieber gleich eine Maß oder ein ganzes Radler will. Das wäre dann doch zu viel in seinem Zustand, antwortete der Rentner.

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