Wintereinbruch:Zu viel Schnee in zwei Tagen

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Ein Räumfahrzeug fährt über eine tief verschneite Landstraße im Landkreis Hildesheim. (Foto: Julian Stratenschulte/dpa)

Minusgrade, Verwehungen und kilometerlange Staus: Tief "Tristan" hält weite Teile Deutschlands im Griff.

Von Oliver Klasen und Jana Stegemann

Daniel Döhr hat nach 28 ehrenamtlichen Jahren beim Technischen Hilfswerk einiges gesehen. Döhr war 2005 beim historischen Schneefall im Münsterland im Einsatz, als Strommasten unter der Schneelast einknickten. Doch das, was sich ihm und seinem neunköpfigen Team gestern Abend auf der A2 bei Bielefeld am Teutoburger Wald bot, war auch für ihn außergewöhnlich: "Das war einfach viel zu viel Schnee in zwei Tagen. Egal wie gut der Winterdienst aufgestellt ist, das gestern war nicht mehr schaffbar."

Lkws waren auf der vereisten Schneedecke vor jeder Steigung weggerutscht, versperrten die Autobahn und blockierten die Ausfahrten. Streusalz konnte kaum etwas ausrichten. Die Räumfahrzeuge kamen nicht durch, Auto- und Lkw-Fahrer mussten bis zu 16 Stunden bei Minustemperaturen in ihren Fahrzeugen ausharren. Rettungskräfte waren im Dauereinsatz.

Döhr, der in Ostwestfalen-Lippe lebt und hauptberuflich ein Forstunternehmen führt, hatte eine kurze Nacht. Erst Dienstagmorgen um vier Uhr war er im Bett, sieben Stunden später klingt er am Telefon aber schon wieder fit. Heute ist sein Geburtstag, Döhr wird 38. Als der Anruf am Montag um 17 Uhr kam, hieß es, "Schlitten aus der Hand, und los geht's". Döhr ist Zugführer der THW-Ortsgruppe Vlotho. Deren Aufgabe war es, Autos und Lkws wieder fahrtüchtig zu machen. Zuerst kümmerten sich die Männer aber um die Autofahrer, "die haben - anders als die Lkws - ja nicht alle eine Standheizung, da ist schnell der Sprit leer", sagt Döhr.

Die Johanniter fuhren mit Quads zwischen den Fahrzeugen entlang. Eine Frau mit ihrem Kind wurde in ein nahe gelegenes Hotel gebracht, "die mussten raus aus der Kälte". Danach arbeiteten sich die THWler Meter für Meter vorwärts, mit Räumfahrzeugen, die mit dicken Schneeketten ausgerüstet waren. "Die Lkw-Fahrer haben fast alle geschlafen, wir haben dann immer an die Scheibe geklopft. Erste Frage: Wie schwer sind Sie?", sagt Döhr, verständigt habe man sich auf Englisch, mithilfe von Übersetzungs-Apps oder mit Händen und Füßen.

Mehr als 40 Prozent der Lkws, die in Deutschland unterwegs sind, werden von Fahrern aus Osteuropa gesteuert. "Die haben es vielleicht in der Kürze der Zeit nicht so schnell mitbekommen, wie sich bei uns die Wetterlage entwickelt. Oder die Speditionen haben die Situation unterschätzt", sagt Döhr. Die Fahrer hätten sich kooperativ verhalten, die Kommunikation sei jedoch - nicht nur wegen der Sprachbarriere, sondern auch wegen Corona - eine Herausforderung gewesen. "Immer wieder sind in der Nacht unsere Masken vereist."

Kilometerlange Staus: Lkws und Autos stehen in der Nacht von Montag auf Dienstag auf der Autobahn 2. (Foto: Festim Beqiri/dpa)

Aber warum waren überhaupt so viele Lkws auf der Autobahn unterwegs - wo doch absehbar war, dass man nicht durchkommen würde? Lkw haben zumeist nur Heckantrieb und fahren sich bei Schnee schnell fest. "Wenn kein offizielles Fahrverbot ausgesprochen ist, drohen Vertragsstrafen, wenn die Waren nicht geliefert werden", sagt Kristina Purschke, Pressesprecherin der Polizei Dortmund. Hinzu kommt, dass viele Lastwagen verderbliche Lebensmittel geladen haben. 340 Verwarnungen sprach die Polizei Dortmund am Montag gegen Lkw-Fahrer aus, die das Fahrverbot missachteten. Das ist nur eine Ordnungswidrigkeit und kostet 60 Euro sowie einen Punkt in Flensburg - wenig im Vergleich zu möglichen Vertragsstrafen.

Über das Lkw-Fahrverbot auf deutschen Autobahnen entscheidet die Autobahn GmbH in Berlin. Auf Anfrage hieß es von der Berliner Behörde: Ein Lkw-Fahrverbot sei immer "das letzte Mittel" und werde auf deutschen Autobahnen "nur in Ausnahmefällen angewandt". Gemeinsam mit den zuständigen Polizeistellen habe man daher entschieden, die Autobahnen in NRW ab Montagabend 22 Uhr für die Lastkraftwagen wieder freizugeben. Zu diesem Zeitpunkt seien die Parkplätze völlig überfüllt und die Bundes- und Landstraßen durch den Lkw-Verkehr überlastet gewesen. Am Dienstag durften also wieder Lkws auf nordrhein-westfälischen Autobahnen fahren - die Räumung der A2 dauerte am Abend aber weiter an.

Für Menschen aus Bayern oder Österreich mögen sich die Meldungen aus der Mitte und dem Norden Deutschlands zunächst unspektakulär anhören. 20, 30 Zentimeter, an manchen Orten vielleicht auch ein halber Meter Neuschnee. Aber im Münsterland, in der Magdeburger Börde oder auf Rügen sind die Menschen seit Jahren eben weniger schneeerprobt.

"Unser Problem sind nicht mal die Schneemassen. Richtig problematisch wird es erst durch die Kombination von viel Schnee und Wind", sagt Andreas Heinemann, Wehrführer bei der Feuerwehr in Putgarten, der nördlichsten Gemeinde auf Rügen. Über die Insel ist in der Nacht zu Dienstag ein Schneesturm hinweggefegt. Innerhalb weniger Stunden fielen bis zu 30 Zentimeter, und der Ostwind, der mit Stärke zehn blies, verwehte den Schnee, drückte ihn von Böschungen hinab auf Straßen, auf denen kein Durchkommen mehr war.

Auch hier auf Rügen mussten sie Autofahrer aus dem Schnee ziehen, so wie auf der Autobahn bei Bielefeld. "Tagesgäste, richtige Touristen gibt es ja wegen Corona gerade nicht", sagt Heinemann, der auch Geschäftsführer der Tourismusgesellschaft in seinem Ort ist. Einige, so leichtsinnig das jetzt im Nachhinein klingt, waren gekommen, um sich den Schnee anzusehen. Denn in Putgarten hatte es, anders als im Rest der Insel Rügen, schon von Donnerstag an geschneit. "Die Leute kennen eben so viel Schnee sonst nur aus dem Fernsehen", sagt Heinemann.

Der Schnee am Montag lag so hoch, dass auch die Feuerwehr kapitulieren musste. Deren Einsatzfahrzeug blieb auf der Straße stecken, genauso wie die Autos. Ein Landwirt brachte die Rettung. Er rückte mit einer Schneefräse an, die den Schnee nicht nur wegschiebt, sondern meterweit wegschleudern kann. Überhaupt sind die Landwirte auf Rügen diejenigen, die die Schneeräumung hauptsächlich besorgen. Kleinen Gemeinden wie Putgarten, 180 Einwohner, stehen oft nur kleine Radlader mit Schiebeschild zur Verfügung. Völlig ausreichend für einen normalen Winter. Aber aussichtslos gegen das, was Tief Tristan auf der Insel hinterlassen hat.

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