Sähe die Eingangshalle des Wuppertaler Hauptbahnhofs nicht aus, als hätte sie der Set-Designer von "Raumschiff Enterprise" entworfen, sie gäbe am ersten Tag ohne Neun-Euro-Ticket ein fast idyllisches Bild ab: Ein Mann hat sein Köfferchen abgestellt und spielt auf dem öffentlichen Klavier Augustin Laras schmachtendes "Granada". Die Angestellten hinter den Fahrkartenschaltern dürfen das musikalische Flair Andalusiens genießen, von Kundschaft sind sie jetzt, um neun Uhr, weitgehend unbehelligt. Auch auf den Bahnsteigen der nahegelegenen Schwebebahn-Haltestelle geht es nach dem Abklingen des Berufsverkehrs eher friedlich zu.
Ganz anders ist die Stimmung keine fünf Gehminuten nordwestlich vom Bahnhof: Vor dem Kundencenter der Wuppertaler Stadtwerke (WSW) hat sich eine Schlange gebildet, den ganzen Wall entlang bis zur nächsten Straßenecke. Sie ist geschätzte 80 Meter lang, also fast so lang wie die Autoschlangen vor den Wuppertaler Tankstellen am Abend zuvor, als es noch rabattierten Sprit gab.

Ja, eine Schlange gebe es hier immer zum Monatsbeginn, wenn die Menschen ihre Monatstickets für den öffentlichen Nahverkehr kaufen, sagt ein WSW-Angestellter. "Aber heute ist es extrem. Gestern auch schon." Weil die Zeit des Neun-Euro-Tickets vorbei ist? "Natürlich", sagt der Mann, der normalerweise Linienbusse fährt. Dass er hier heute als Warteschlangenordner eingesetzt wird, hat womöglich auch mit seiner beeindruckenden Statur zu tun.
Wuppertal ist nicht der schlechteste Ort, um stichprobenhaft die Post-Neun-Euro-Lage zu checken. Immerhin hat sich ein prominenter Sohn der Stadt jüngst mehrmals öffentlichkeitswirksam sehr negativ über das Ticket geäußert. Von einer "Gratismentalität à la bedingungsloses Grundeinkommen" sprach jüngst Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP), 1979 in Wuppertal geboren, im Interview mit der Augsburger Allgemeinen. Per Twitter konstatierte er, das ganze Neun-Euro-Modell sei "nicht nachhaltig finanzierbar, nicht effizient und nicht fair".
Aufgewachsen ist Lindner übrigens in Wermelskirchen, gut 20 Kilometer südlich von Wuppertal. Dort fahren im öffentlichen Nahverkehr schon lange nur noch Busse, die Eisenbahnverbindung wurde stillgelegt, als Lindner vier Jahre alt war. Vielleicht war es diese traumatische kindliche Prägung, die den Finanzminister zur Aussage veranlasste, "Menschen auf dem Land", die keinen Bahnhof in der Nähe hätten und auf das Auto angewiesen seien, würden im Falle einer Fortführung des Neun-Euro-Tickets "den günstigen Nahverkehr subventionieren".
20 Prozent mehr Fahrgäste in der Schwebebahn
Kann ja sein, dass er den Wermelskirchenern aus dem Herzen spricht. In seiner Geburtsstadt jedenfalls klingt das Stimmungsbild anders. Vor dem WSW-Kundencenter stößt man auf wenig Verständnis für seine Haltung. "Nicht jeder hat ein Gehalt wie Herr Lindner", gibt etwa Salma Akil zu bedenken. Sie studiert an der Technischen Hochschule Köln Mehrsprachige Kommunikation mit Schwerpunkt Wirtschaft. An diesem Morgen hat sie ihre Mutter Yamila zum Kauf eines neuen Monatstickets begleitet. "Das kostet 49 Euro und gilt erst ab neun Uhr", erklärt Salma Akil. "Wir sind ein Fünf-Personen-Haushalt, da war das Neun-Euro-Ticket eine große Entlastung." Sie selbst nutzt als Studentin das in ganz Nordrhein-Westfalen gültige Semesterticket, das aber während der vergangenen drei Monate auch verbilligt war. Akil findet, es sei "eigentlich eine Selbstverständlichkeit, die Öffis billiger zu machen, um die Bürger zu entlasten".
Die städtischen Verkehrsbetriebe selbst hatten bereits nach einem Monat einen positiven Effekt zu vermelden: Die Zahl der Schwarzfahrer reduzierte sich in Wuppertal von Mai auf Juni um ganze 80 Prozent. Die Frequenz der Kontrollen blieb nach Einführung des günstigen Fahrscheins unverändert - es fuhren einfach mehr Menschen mit dem Neun-Euro-Ticket, statt eine Strafzahlung von 60 Euro zu riskieren.
Im Juni, Juli und August wurden in Wuppertal insgesamt etwa 223 000 Neun-Euro-Tickets verkauft, plus knapp 172 000 Abo-Monatskarten, die automatisch auf den reduzierten Betrag umgestellt wurden - und das in einer Stadt, in der gerade mal 354 000 Menschen leben. Die Fahrgastzahlen seien in den drei Sommermonaten in Wuppertal "spürbar gestiegen", so die WSW. Vor allem beim Wahrzeichen der Stadt, der Schwebebahn: Dort wurden 20 Prozent mehr Fahrgäste verzeichnet als vor der Einführung des Neun-Euro-Tickets.
Zu denen, die das vergünstigte Ticket in die öffentlichen Verkehrsmittel gelockt hat, zählt Süleyman Sogüt. Er habe sich in die Schlange am Wall gestellt, um sich "mal zu informieren, was es für Tickets gibt". Vor dem Neun-Euro-Ticket hat Sögüt, der bei einem Tiefbauunternehmen angestellt ist, nach eigener Aussage nie Bus und Bahn genutzt. Die zwölf Kilometer zur Arbeit fuhr er immer mit dem Auto. "Dann ist meine Mutter bei mir eingezogen", sagt er. "Sie hat Krebs und muss zur Chemotherapie. Ich habe für sie ein Neun-Euro-Ticket gekauft, weil ich sie nicht immer fahren kann, und selbst Auto zu fahren, ist für sie nach der Behandlung zu unsicher." Bei der Gelegenheit kaufte er sich selbst auch gleich eins, weil es so günstig war. Seither fahre er auch mit dem Bus und vor allem mit der Schwebebahn. "Das ist umweltfreundlicher und geht genauso schnell", so Sogüt, der für kurze Strecken gerne dauerhaft auf den ÖPNV umsteigen möchte. Der erhoffte Effekt des Neun-Euro-Tickets.

Etwas weiter vorne in der Schlange steht Susanne Koekkoek - schon wieder. Sie habe gestern schon vor dem WSW-Kundencenter gewartet, um ein neues Monatsticket für den jüngsten ihrer vier Söhne zu kaufen, der gerade die Schule gewechselt habe, sagt sie. Erfolglos: "Als ich dran war, war schon Feierabend". Jetzt hat Koekkoek mit einer Kollegin die Dienste in der Demenz-WG getauscht, in der sie als Pflegekraft für zehn Bewohnerinnen arbeitet, um anstehen zu können. Das Neun-Euro-Ticket habe für sie einen großen finanziellen Unterschied gemacht, sagt sie. Das sogenannte "Schokoticket", ein Aboticket für Schüler, kostet immerhin 38 Euro.
"Ich wäre dafür, dass der ÖPNV einfach gar nichts kostet", sagt der Busfahrer
Christian Lindner hatte zuletzt im Gespräch mit Welt-TV ein bisschen eingelenkt und gesagt, eine neues Ticket für 49 Euro sei besser als eines für neun, obwohl er auch da bei der Finanzierung "skeptisch" sei. "Für mich selbst würde ich das auch nehmen" sagt Susanne Koekkoek. "Ist immer noch weniger, als ich jetzt ausgebe." Ein normales Monatesticket kostet mindestens 64 Euro.
Die Länge der Warteschlange hat sich während der Gespräche kein bisschen reduziert. Den Unmut mancher WSW-Kunden bekommt der sonst Bus fahrende Aushilfsordner ab. Zu Stoßzeiten am Monatsbeginn werde man durchaus auch mal angepöbelt von genervten Wartenden, berichtet er. Das sei in den vergangenen drei Monaten angenehmer gewesen. Das Neun-Euro-Ticket sei schon ein Schritt in die richtige Richtung gewesen. "Aber eigentlich", sagt der WSW-Mann und blickt über die Köpfe der Wartenden hinweg, "wäre ich dafür, dass der ÖPNV einfach gar nichts kostet."
Da muss Christian Lindner wohl noch ein bisschen Überzeugungsarbeit leisten. Nicht nur in Wuppertal, aber vielleicht wäre hier ein guter Anfang - wenn er das nächste Mal vor dem Kundencenter für ein Ticket ansteht.