80-Jähriger wieder auf freiem Fuß:Ein Inzest-Fall, der keiner war

Der Missbrauchsvorwurf gegen einen Vater in Österreich ist vom Tisch. Zwar hat er seine Töchter misshandelt, vergewaltigt hat er sie nicht. Viele hatten bereits einen zweiten "Fall Fritzl" gesehen. Ein voreiliger Schluss. Jetzt ist die Polizei blamiert.

Cathrin Kahlweit

Nun, da sich die schlimmsten Befürchtungen als falsch erwiesen haben, sind alle Beteiligten "unglücklich" über den Verlauf. Alles hatte ja auch so naheliegend wie bekannt geklungen: ein alter Vater, verstörte Töchter, ein abgelegenes Haus in der Nähe des österreichischen Braunau - und der Vorwurf des langjährigen Missbrauchs zweier Kinder, die vom Vater eingesperrt und von der Mutter nicht geschützt wurden. Die Erinnerung an Amstetten, an den Fall Fritzl, der schon drei Jahre zurückliegt und gleichwohl präsent ist im kollektiven Gedächtnis Österreichs und der Welt, war sofort wieder da, sogleich wurden die Untiefen der österreichischen Seele einmal mehr ausgelotet. Und nun? War alles ganz anders.

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So ging es los mit dem bösen, und wie sich nun herausstellt falschen Verdacht: Ein Polizeibeamter informiert Ende August Medienvertreter in Braunau über die Verhaftung eines 80-Jährigen, der seine Töchter missbraucht haben soll.

(Foto: AFP)

Der 80-jährige Oberösterreicher, der Ende August unter dem Verdacht in Untersuchungshaft landete, seine beiden 53 und 45 Jahre alten Töchter jahrzehntelang misshandelt und vergewaltigt zu haben, ist wieder auf freiem Fuß. Der Missbrauchsvorwurf ist vom Tisch. Die beiden Frauen sind unter neuen Namen in einer Pflegeeinrichtung untergebracht worden. Und die Leitende Staatsanwältin Ernestine Heger von der Staatsanwaltschaft Ried im Innkreis sagt, ihre Ermittler hätten die Unterlagen zum Fall Braunau erst auf den Tisch bekommen, als die Parallelen zum Fall Amstetten schon in allen Zeitungen standen. Die beiden weiblichen Opfer, wiewohl minderintelligent und durch ihren Vater von allen Sozialkontakten abgeschottet, hätten die Berichterstattung durchaus mitbekommen und seien "verzweifelt".

Wie es dazu kommen konnte? Die Schwestern aus St. Peter hatten ihren Vater nach einem versuchten Übergriff, bei dem er stürzte, liegenlassen und erst nach zwei Tagen eine Sozialarbeiterin darüber informiert. Die Polizei kam, befragte die Frauen, und schnell war der Verdacht da: Inzest. Der Mann kam in U-Haft, bestritt aber alle Vorwürfe.

Erst als die versierte Gutachterin Heidi Kastner eingeschaltet wurde und die Frauen befragte, stellte sich heraus: Die beiden Schwestern waren zwar von ihrem Vater immer wieder gequält und geschlagen worden, er hatte sie zu Hause festgehalten und ihre Außenkontakte auf ein Minimum beschränkt. Aber bei den Fragen der Gutachterin nach Sex oder Vergewaltigungen stellte sich heraus, dass die 53-Jährige und die 45-Jährige nicht wussten, was das ist. Vor der Gutachterin bestritten sie schließlich, dass es zu sexuellen Akten gekommen sei; sie wollten aber aus Angst vor dem Vater dennoch nicht mehr nach Hause zurück. Wie es nun weitergeht? Die Polizei ist blamiert, auch wenn der oberösterreichische Polizeichef Alois Lißl laut Standard sagt, er könne "keine Versäumnisse der Landesbehörden" erkennen. Man habe den Frauen teils "sehr intime Fragen" gestellt, die sie auch verstanden hätten.

Justizirrtum gerade noch verhindert

Nun, Wochen später, scheint sich indes zu erweisen, dass die ersten Aussagen zum Dauermissbrauch nicht intensiv hinterfragt wurden. Die Staatsanwaltschaft Ried will zwar laut Ernestine Heger gegen den Vater nur noch wegen Vernachlässigung wehrloser Personen und Gewaltanwendung ermitteln, gleichzeitig werde aber auch geprüft, ob die Vorwürfe verjährt sind.

Szenarien von Braunau als zweitem Amstetten und die Frage, ob Untaten wie diese auf österreichischem Boden eher gedeihen als anderswo, sind damit vom Tisch. Berichte über das "Inzest-Haus von Braunau", den "Horrorvater" erweisen sich nun, im Nachhinein, als massiver Einbruch in die Privatsphäre einer Familie, die öffentlich mit Namen und Adresse genannt wurde.

Immerhin haben die Linzer Behörden einem Justizirrtum vorgebeugt, wie er sich anderswo bereits zugetragen hat: In Mainz wurde Mitte der 90er Jahre in einem Mammutprozess gegen 24 Angeklagte in mehr als 100 Fällen von Vergewaltigung verhandelt; drei Familien sollen in wechselnder Besetzung ihre Kinder missbraucht haben. Am Schluss standen 24 Freisprüche - und die Erkenntnis, dass die Kinder unprofessionell und suggestiv befragt worden seien und die Staatsanwaltschaft sich in den Glauben an die Beweisbarkeit ihrer Vorwürfe verrannt habe. Jahre später kam es zu einem ähnlichen Justizskandal in Frankreich, als die vermeintlichen Kinderschänder von Outreau vor Gericht standen. Ein unerfahrener Ermittlungsrichter, der glaubte, einen zweiten Fall Dutroux vor sich zu haben, klagte 13 Menschen an, ein pädophiles Netzwerk aufgebaut zu haben; die Kinder, erwies sich später, dachten sich eine ganze Reihe von Verdächtigen einfach aus, die Gutachter bemerkten das offenbar nicht. Nachdem ein Berufungsgericht die Urteile kassierte, wurde in Frankreich intensiv über eine notwendige Justizreform diskutiert.

Gleichwohl lehrt der Fall Braunau, dass Strukturreformen die Bereitschaft der Menschen, an das Schlimmste zu glauben, nicht mindern. Dabei ist der Fall der Schwestern auch so schlimm genug: Ihr Vater hat die Mutter und sie selbst misshandelt, solange sie sich erinnern können, und ein Nachbar soll sie in ihrer Kindheit vergewaltigt haben.

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