Überlebende, die an den Tod ihrer Kameraden nicht glauben wollen, mutmaßen, dass es, obwohl weite Teile der Grube unter Wasser stehen, noch Überlebende geben könnte. Ihre Vermutung: Auf der Flucht vor den eindringenden Wasserfluten könnten einige Kumpel in das Bruchfeld des Bergbaus geflüchtet sein. Jenen Bereich also, der von Bergarbeitern Alter Mann genannt wird. Jenen Bereich, der von Menschen nicht betreten werden sollte, weil dort das Erz längst abgebaut ist, die Kammern instabil sind, Einsturz- und Lebensgefahr droht.
Obwohl es aussichtslos erscheint, lässt sich die Bergwerksleitung zu einer weiteren Suchbohrung überreden. Zu einem Zeitpunkt, zu dem anderswo in Lengede bereits die Trauerfeier für die Totgesagten vorbereitet wird, zu dem die Totenglocken bereits geläutet haben, zu dem die Totenanzeigen gesetzt werden. Es ist die Bohrung, die den Durchbruch bedeuten wird. Am 3. November, einem Sonntagmorgen, um kurz vor sieben Uhr machen sich die elf noch lebenden Eingeschlossenen mittels Klopfgeräuschen an dem hinabgelassenen Bohrer bemerkbar. Es ist ein Lebenszeichen. 227 Stunden, nachdem der Klärteich eingestürzt ist, gibt es elf Kumpel die zwar verzweifelt, ausgehungert und teilweise verletzt, aber am Leben sind.
Helfer tragen einen der befreiten Bergleute nach 14 Tagen im Berg ins Freie
(Foto: dpa)Die Rettungsleitung setzt nun alles in Bewegung: Europas größtes fahrbahres Bohrgerät, ein 100 Tonnen schwerer Koloss, wird herangekarrt. Aus Oberhausen wird ein nagelneuer Pressluft-Kompressor unter Blaulichteinsatz nach Lengede transportiert. Bundeskanzler Ludwig Erhard fliegt mit dem Hubschrauber ein und spricht den Eingeschlossenen über ein Mikrofon Mut zu. Am 7. November schließlich gelingt nach ausführlicher und tagelanger Planung, was viele in dem einsturzgefährdeden Gestein für unmöglich gehalten haben: Die Bohrer haben sich so präzise in den zerfallenden Bergbau hineingegraben, dass um 13.10 Uhr ein Steiger in einer Dahlbuschbombe hinabgelassen werden kann, um die Eingeschlossenen zu befreien. Im Abstand von fünf Minuten werden die Überlebenden nun ans Tageslicht gebracht. Das Wunder ist vollbracht - und wird in die ganze Welt gesendet.
449 Journalisten sind nach Lengede gekommen. Fernsehen und Radio berichten in Liveschaltungen vom Unglücksort. Die Bild-Zeitung druckt eine Sonderausgabe für die Verschütteten, die nur gute Nachrichten enthält. Es ist eines der ersten Ereignisse der noch jungen Bundesrepublik, das vollumfänglich und weltweit massenmedial dokumentiert und verbreitet wird. Die Geschichte wird zum Mythos, auch weil sie in diese an deutschen Heldengeschichten arme Zeit so gut passt: Kameradschaft, Präzision, Fortune, daraus speist sich die Geschichte. In riesigen Buchstaben produziert die Bild-Zeitung Titel wie: "Gott hat mitgeholfen".
Viermal wird das Wunder von Lengede in den folgenden Jahrzehnten für das deutsche Fernsehen verfilmt. 2003 widmet Sat.1 dem Drama einen aufsehenerregenden Zweiteiler, der vier Grimme-Preise abräumt. Auch fünfzig Jahre nach dem Unglück ist das Interesse groß. Wenn es wie 2010 in Chile zu vergleichbaren Katastrophen kommt, dann ist hierzulande auch stets wieder von Lengede die Rede. Die Wundergeschichte aus Niedersachsen, das zeigt sich dann, ist auch die Erinnerung an ein Deutschland, das es nun nicht mehr gibt.