Die Liste mit den Totgesagten hängt schon am Zechentor, da hat gerade erst der Samstagnachmittag begonnen, es ist der zweite Tag nach dem Grubenunglück. 39 Männer, so ist es der Bekanntmachung zu entnehmen, haben ihr Leben verloren, als am 24. Oktober 1963 der Klärteich Nummer 12 der Eisenerzgrube Lengede-Broistedt einstürzte. Die Fahne auf dem Förderturm des Schachtes "Mathilde" ist auf Halbmast gehisst. Das Grubenunglück von Lengede, so scheint es, hat in einer Katastrophe geendet.
500 Millionen Liter Schlamm und Wasser brechen am Donnerstagabend kurz nach 20 Uhr in das Bergwerk ein. Zu einem Zeitpunkt, als sich 129 Kumpel auf dem Schacht befinden. 79 können sich unmittelbar nach dem Unglück in Sicherheit bringen. 50 Bergleute gelten in der Nacht nach dem Unglück als vermisst, ihre Überlebenschancen als gering. Obwohl noch am Freitag bei einer Suchbohrung sieben vermisste Kumpel gerettet werden, obwohl vier weitere Männer in einer Luftblase vermutet werden, scheint es spätestens am Samstagnachmittag so, als habe der Grubenunfall in Lengede ein katastrophales Ende genommen.
Hätten die Bergungstrupps an jenem Samstag ihre Suche eingestellt, würden sich heute, 50 Jahre später, wohl nur noch wenige Menschen an Lengede erinnern. In der deutschen Geschichte hatte es zuvor schon Dutzende Grubenunglücke gegeben. Der Rohstoffabbau stellt für die aufstrebende Industrienation eine wichtige Wirtschaftsgrundlage dar. Allein 60 Bergwerke, in denen Eisenerz abgebaut wird, gibt es damals. Nicht selten enden Unfälle unter Tage mit vielen Toten.
Retter lassen Mikrofone in die Grube hinab
Dass Lengede, obwohl dort weit weniger Menschen sterben, Teil des kollektiven Gedächtnisses der Deutschen ist, liegt daran, dass die Geschehnisse am Samstagnachmittag, zwei Tage nach der Katastrophe nicht zu Ende sind. An diesem Tag endet das Unglück von Lengede. Doch das Wunder von Lengede beginnt erst.
Obwohl niemand weiß, welche Katastrophen sich dort auf den Schächten unter der niedersächsischen 3700-Einwohner-Gemeinde abspielen, arbeiten die Hilfskräfte in den kommenden Tagen weiter. Stundenlang wird gebohrt. Stoßen die Rettungskräfte auf Hohlräume, lassen sie hochsensible Mikrofone in die Erde hinab und hören doch "nur das eintönige Geräusch tropfenden Wassers", wie der Spiegel damals schreibt. Von den vermissten Kumpeln fehlt tagelang jedes Lebenszeichen.
Erst acht Tage nach dem Unglück, am 1. November, werden drei der vier in einer Luftblase vermuteten Kumpel geborgen. Eine tagelang vorbereitete Bohrung dringt in den frühen Morgenstunden zu den Vermissten vor. Mithilfe einer torpedoförmigen Rettungskapsel, der sogenannten Dahlbuschbombe (siehe Infotext), gelangen die Bergleute wenige Stunden später an die Erdoberfläche - nach 190 Stunden im Berg. Das Wunder von Lengede hat begonnen. Doch welche Ausmaße es annehmen wird, ahnt niemand.