20 Jahre nach Mord an Mafia-Jäger Borsellino:Stochern im Sumpf

Am 19. Juli 1992 reißt ein Autobombe Staatsanwalt Paolo Borsellino und etliche andere Menschen in den Tod: eine neue Eskalation der Gewalt der Cosa Nostra. Oder steckten am Ende ganz andere Kräfte hinter dem Attentat? Gab es jene sagenumwobeme "Trattativa", ein Abkommen zwischen Mafia und Politik? In Palermo wird nun von Neuem ermittelt.

Henning Klüver

Am Nachmittag des 19. Juli 1992, es ist ein Sonntag, biegen kurz vor 17 Uhr drei Wagen in die Via Mariano D'Amelio am westlichen Rand der Innenstadt von Palermo ein. Eine drückende Hitze weicht den Asphalt der Straßen auf. Staatsanwalt Paolo Borsellino, seit Jahren bei der Bekämpfung der sizilianische Mafia engagiert, ist auf dem Weg zum Besuch seiner Mutter. Die schwer gepanzerten Wagen halten vor der Hausnummer 19/21. Unbeachtet, nur ein paar Meter entfernt, steht ein Fiat 126. Er ist mit 100 Kilo Sprengstoff beladen. Borsellino steigt aus, auf dem Rücksitz lässt er ein rotes Notizbuch liegen. Die Männer (und eine Frau) seiner Begleitmannschaft bilden routinemäßig einen schützenden Kreis um den 52-jährigen Staatsanwalt. Der Fahrer seines Wagens manövriert derweil etwas abseits den Dienstwagen in eine bessere Parkposition.

20 Jahre Attentat auf Mafia-Jäger Paolo Borsellino

Blumen erinnern an die sechs Menschen, die bei dem Attentat am 19. Juli 1992 im sizilianischen Palermo ums Leben kamen. Einer von ihnen war Paolo Borsellino, Staatsanwalt und scharfer Mafia-Gegner.

(Foto: DPA)

Als Borsellino die Tür zum Wohnblock erreicht, explodiert der Fiat 126. Die Bombe reißt die Menschen auf der Straße in Stücke. Autoteile wirbeln durch die Luft, die Druckwelle lässt die Fensterscheiben des Wohnblocks zerspringen und wirft Bewohner auf den Boden. Auf der Straße überlebt, bis auf den Fahrer im gepanzerten Dienstwagen von Borsellino, keiner der Beteiligten. Als die ersten Hilfskräfte eintreffen, brennen Autos, Leichenteile liegen verstreut zwischen Glas- und Metallsplittern, Hilfeschreie kommen aus dem Wohnblock. "Es war wie in Beirut", erinnerte sich ein Augenzeuge.

56 Tage zuvor war Giovanni Falcone, mit dem Paolo Borsellino früher in der Staatsanwaltschaft von Palermo zusammengearbeitet hatte, mit seiner Frau und drei Mitgliedern der Begleitmannschaft bei einem ebenfalls spektakulären Bombenanschlag auf der Fahrt zwischen dem Flughafen Palermo und der sizilianischen Regionalhauptstadt ums Leben gekommen; hundert Meter Autobahn waren in die Luft gesprengt worden. Die Cosa Nostra hatte unter Führung des Clans der Corleonesen mit ihrem Paten Totò Riina im Kampf mit dem Staat die Grenze der bislang bekannten Gewaltbereitschaft überschritten - und damit sich anscheinend selbst eine Falle gestellt. Denn unter dem Eindruck der Mordanschläge verabschiedete das Parlament neue Gesetze, zum Beispiel verschärfte Haftbedingungen. Und Riina konnte im Januar 1993 verhaftet werden, wie bald darauf andere Bosse besonders des militärischen Flügels der Mafia auch.

Zwanzig Jahre danach erinnert sich Italien an diesen blutigen Vorsommer und an die beiden Männer, die heute wie Märtyrer verehrt werden. Eine Reihe von neuen Büchern ist erschienen, andere Veröffentlichungen oder DVDs werden an den Kiosken verkauft. Es sind Erinnerungen von Verwandten, Freunden, Zeitgenossen der Opfer. Oder kritische Untersuchungen von Journalisten wie Attilio Bolzoni mit dem Titel "Uomini soli" (frei übersetzt: "Alleingelassen"). Manches bleibt (verständliche) Hagiographie. Auch ein bislang unveröffentlichtes Theaterstück gehört zu einer Beilage der Zeitung Il Fatto.

Rache an einem verhassten Richter

Den Mord an Falcone konnte man noch als Racheakt der Cosa Nostra gegenüber einem verhassten Staatsanwalt und Richter verstehen. Denn Falcone war es, der in Palermo die Untersuchungen gegen Dutzende von Mitgliedern der Cosa Nostra geleitet hatte, die zu einem sogenannten Maxi-Prozess führten, bei dem die meisten Angeklagten zu hohen Haftstrafen verurteilt wurden. Und vom Justizministerium in Rom aus verfeinerte er später das rechtliche Instrumentarium im Kampf mit dem organisierten Verbrechen.

Doch der Mord an Paolo Borsellino wollte nicht so ganz in dieses Schema passen. In seinen letzten Interviews hatte der Staatsanwalt angedeutet, dass er sich von den Behörden allein gelassen fühlte. Enrico Deaglio beschreibt in seinem Buch "Il vile agguato" ("Der feige Hinterhalt") mit dem Untertitel "Eine Geschichte von Grausamkeit und Lüge", wie gleichsam am grünen Tisch mit Hilfe auch von Folter eine Gruppe von Schuldigen aus dem Mafia-Milieu konstruiert und bis zur letzten Instanz abgeurteilt wurde. Erst durch die belegbaren Aussagen eines Mitglieds der Cosa Nostra, das sich vor einigen Jahren zur Mitarbeit mit den Justizbehörden entschlossen hatte, stellte sich die ganze Aktion als eine ungeheure Irreführung der Behörden und einen leichtfertigen Umgang mit der Wahrheit im Justizapparat heraus.

Die Verurteilten mussten im Oktober 2011 nach 17 Jahren Gefängnis wegen "Aussetzung der Strafe" wieder aus der Haft entlassen werden. Einer der damals leitenden Polizisten war übrigens auch bei der brutalen Polizeiaktion in Genua gegenüber Demonstranten in der Diaz-Schule beim G8-Gipfel 2001 beteiligt und stand außerdem auf der Gehaltsliste der Geheimdienste. Und das sollte nicht die einzige (falsch gelegte?) Spur bleiben. Es verschwand Beweismaterial, wie etwa das rote Notizbuch des Staatsanwalts, das noch am Tatort sicher gestellt worden war. Was bis heute zu einer Flut von Spekulationen geführt hat.

Unbequem im Gestrüpp aus Mafia und Politik

Sicher ist, dass der Mord an Borsellino ein Werk der Cosa Nostra war. Aber die Organisation war nicht die einzige, die ein Interesse an seinem Tod hatte. Denn der Staatsanwalt ermittelte noch in einem besonders delikaten Fall. Entführungsfälle von Unternehmern und Politikern hatten in Führungskreisen für Unruhe gesorgt. Im März 1992 wurde der christdemokratische Politiker Salvo Lima, der als Verbindungsmann der sizilianischen DC zu Giulio Andreotti galt, in Palermo erschossen. Er und seine politischen Freunde hatten nicht (wie in ähnlichen Fällen früher) verhindern können, dass die Urteile des Maxi-Prozesses in letzter Instanz vom Kassationsgericht bestätigt wurden.

Eine Art ungeschriebener Pakt zwischen Politik und Mafia war zerbrochen. Politiker und Unternehmer fürchteten um ihr Leben. In Mailand stellte Silvio Berlusconi einen Mafioso als Stallknecht ein (obgleich es im Anwesen des Medienmoguls keine Ställe gab), um sich zu schützen. Hohe Polizeioffiziere nahmen heimlich Kontakt zur Cosa Nostra auf. Es kam zu Treffen mit Vito Ciancimino, einem Vertrauten des Mafioso Bernardo Provenzano. Nach dem überraschend brutalen Mord an Falcone lässt Totò Riina (wie sich erst viel später herausstellt) einen Forderungskatalog der Mafia übergeben, der neben der Rücknahme der Urteile im Maxiprozess vor allem auf Hafterleichterungen abzielt.

Was haben die damaligen Verantwortlichen wie der Innenminister (und spätere Senatspräsident) Nicolo Mancini von einer solchen "Trattativa", einer solchen Verhandlung gewusst? Haben sie sie sogar gefördert? Welche Rolle spielte Marcello Dell'Utri, ein enger Mitarbeiter von Silvio Berlusconi, dessen Mafia-Verbindungen aktenkundig sind? Hat die Cosa Nostra mit Finanzspritzen die damals maroden Berlusconi-Unternehmen gerettet? Ein Prozess gegen Dell'Utri wegen Mitarbeit von außen mit der Mafia ist nach zwei Verurteilungen noch nicht abgeschlossen. Mancini und andere streiten bis heute ab, informiert worden zu sein. Paolo Borsellino, der jede Form von Übereinkunft mit der Mafia ablehnte, ermittelte auch in diese Richtung - und war vielen Seiten unbequem, ja sogar gefährlich geworden.

Zurück in den Untergrund

Nach seinem Tod dauerten die Kontakte zwischen Mafia und Polizeikräften an. Totò Riina, der Stratege der Gewalt, konnte verhaftet werden, weil er von seinen eigenen Leuten verraten wurde. 1993 gab es weitere Bombenanschläge nach Mafiaart und weitere Tote merkwürdigerweise außerhalb Siziliens in Rom, Florenz und Mailand. Dann übernahm Bernardo Provenzano die Führung der Cosa Nostra und führte sie in den stillen Untergrund zurück. "Keinen Lärm machen", hieß seine Devise. 388 Mafia-Bossen sprach das Justizministerium plötzlich Hafterleichterung zu. Die Gesetze über "reuige Mafiosi", die zu Mitarbeitern der Justizbehörden werden (und in den Augen der Cosa Nostra zu Verrätern), wurden verwässert. Und der neue Padrino Bernardo Provenzano, der bereits wegen mehrfachen Mordes endgültig verurteilt worden war, konnte sich ohne große Probleme im Untergrund bewegen. Er wird erst 2006 entdeckt und festgenommen.

Es sei nicht leicht über die "Trattativa" zu schreiben, heißt es bei Nando dalla Chiesa in dem Buch "La Convergenza" ("Die Konvergenz"), Untertitel: "Mafia und Politik in der zweiten Republik". Denn man bewege sich im Umfeld von "geheimen und möglichen Fakten". Nando dalla Chiesa, Sohn des von der Mafia 1982 ermordeten Carabinierigenerals Alberto dalla Chiesa, unterrichtet Soziologie der organisierten Kriminalität an der Universität Mailand. Man könne, so schreibt er, in der Handlungsfolge, die "halb gerichtlich, halb historisch" begründet ist, den "Widerschein einer Verhandlung" ausmachen.

Neue Ermittlungen in Sachen "Trattativa"

Die Staatsanwaltschaft von Palermo hat erneut Untersuchungen aufgenommen, um diesen Widerschein in Licht zu verwandeln. Aussagen ehemaliger Mafiosi lassen eine Form der "Trattativa" vermuten, die bis in die Spitze der Politik reichte. Auch einige Politiker beginnen sich jetzt vage zu erinnern. Doch ist die Staatsanwaltschaft in ihrem Inneren bei diesen Untersuchungen gespalten. Auf der einen Seite steht Antonio Ingroia, in jungen Jahren ein Mitarbeiter von Falcone und Borsellino, auf der anderen seine Vorgesetzten. In der Justiz deutet sich ein Machtkampf verschiedener Gruppen an.

Falsche Fährten, Rolle der Geheimdienste, der Staat als Auftraggeber von Mord? Was sind Hirngespinste, was erschreckende Spuren? Silvio Berlusconi, in diesen Tagen von der Staatsanwaltschaft vorgeladen, lehnte es ab, zur Aussage zu kommen, und schob Terminschwierigkeiten vor. Ex-Innenminister Nicolo Mancini, gegen den ermittelt wird, hat offensichtlich versucht, über das Amt des Staatspräsidenten zu erreichen, dass die Ermittlungen in diesem Fall der Staatsanwaltschaft von Palermo entzogen werden. Seine Telefonate mit dem Quirinal sind von den Ermittlern abgehört worden. Staatspräsident Giorgio Napolitano hat jetzt die Advokatur des Staates aufgefordert, gegen die Staatsanwaltschaft von Palermo wegen Machtmissbrauches zu klagen. Die Justizministerin der Monti-Regierung hat Schweigen angeordnet.

Wie bei anderen dunklen Fällen der italienischen Nachkriegsgeschichte wird man zwanzig Jahre nach dem Mord an Paolo Borsellino auch im Fall der "Trattativa" zwischen juristischer und historischer Erzählung, zwischen juristischer und historischer Wahrheit unterscheiden müssen. Enrico Deaglio kommt in seinem Buch zum Schluss, dass damals in Italien keine politische Partei und keine ökonomische oder finanzielle Machtgruppe, keine Teile des Justizapparats wirklich die Absicht gehabt hätten, "sich der Cosa Nostra zu entledigen" - viele hätten ihre Dienste geschätzt.

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