Woolpit in England:Die Legende der grünhäutigen Kinder

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In der Nähe des englischen Woolpit wurden im 12. Jahrhundert die geheimnisvollen grünen Kinder gefunden. (Foto: SZ Photo)

Wer war das Geschwisterpaar, das Ende des 12. Jahrhunderts in Woolpit in einer Wolfsfalle gefunden wurde? Die angeblich grüne Hautfarbe der beiden gibt bis heute Anlass zur Spekulation.

Von Florian Welle

Ein Schild aus gestanztem Metall, ähnlich gearbeitet wie ein Scherenschnitt. Die märchenhafte Anmutung verstärkt sich durch die dargestellte Szene: Rechts auf einem Hügel steht ein Wolf, links halten sich ein Mädchen und ein Junge an der Hand. Dazwischen eine Kirche, die genau in der Mitte der Tafel in die Höhe ragt. Es ist die Kirche St. Mary, das Wahrzeichen Woolpits, der kleinen, etwa 2000 Einwohner fassenden Ortschaft in der ostenglischen Grafschaft Suffolk, ungefähr 60 Kilometer von Cambridge entfernt.

Im Mittelalter war Woolpit eine beliebte Pilgerstätte. Später brannte man dort Ziegel. Heute lockt es vor allem Touristen hierher, die sich auf die Spuren jener Legende begeben, die auf dem Schild angedeutet wird und deretwegen der Ort bis heute nicht in Vergessenheit geraten ist: "Die grünen Kinder von Woolpit". Die Geschichte, die im Laufe der Zeit die unterschiedlichsten Interpretationen erfahren hat, soll sich im 12. Jahrhundert zugetragen haben.

Feldarbeiter fanden das Mädchen und den Jungen in einer Wolfsgrube

Der Nachwelt überliefert wurde sie von William of Newburgh und Ralph of Coggeshall, zwei Mönchen an der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert. In den Details ihrer Erzählungen unterschieden sich die beiden; wohl eine Folge der jeweils benutzten mündlichen beziehungsweise schriftlichen Quellen.

So siedelt William in seiner um 1196 entstandenen "Historia rerum Anglicarum" die Geschichte zur Zeit König Stephans an, der von 1135 bis 1154 regiert hat. In Ralph of Coggeshalls "Englischer Chronik" aus den Zwanzigerjahren des 13. Jahrhunderts hingegen spielt sie unter Heinrich II., Stephans Nachfolger auf dem englischen Thron.

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Anders als ein erster Blick vielleicht vermuten lässt, handelt die Legende aber nicht von Wolfskindern, also von wilden Kindern, die fern der Zivilisation unter Tieren aufgewachsen sind. Der Wolf hat hier eine andere Bedeutung.

Feldarbeiter sollen in einer ihrer zur Wolfsjagd mit Blattwerk getarnten Fallgruben eines Tages ein Mädchen und einen Jungen gefunden haben. Das Besondere an ihnen: Ihre Haut war grün. Bei William trugen die beiden zudem Kleidung aus unbekanntem Material.

Die Bewohner Woolpits nahmen die Kinder, deren Sprechen nicht zu verstehen war, mit. Während sie bei Ralph of Coggeshall bei dem Ritter Richard de Calne unterkamen, kennt die "Historia" Williams diesen Namen nicht. Beide Chronisten stimmen jedoch mehr oder weniger darin überein, was im Folgenden geschah. Die Kinder verweigerten die Nahrungsaufnahme. Eines Tages jedoch setzte man ihnen rohe Bohnen vor. Diese aßen die zwei nun mehrere Monate lang, bis sie endlich auch Brot verzehrten.

Schließlich verloren sie darüber nach und nach ihre grüne Hautfarbe. "Sie wurden wie wir", heißt es dazu bei William of Newburgh. Das heißt, sie lernten auch Englisch zu sprechen, zudem ließ man sie taufen. Der Junge jedoch, der wohl etwas jünger und schwächlicher als das Mädchen war, starb kurze Zeit darauf. Glaubt man William, hat es später einen Mann aus Lynn geheiratet.

Kaum dass die Kinder sprechen konnten, wurden sie natürlich auch nach ihrer Herkunft befragt. Demnach waren sie Geschwister und kamen aus Saint Martin's Land, das ebenfalls christlich war, in dem man aber nicht die Taufe kannte und in dem vor allem niemals die Sonne schien. Jedoch, so steht es bei William, konnten sie von dort aus auf ein Land voller Licht blicken. Allerdings war dies durch einen sehr breiten Fluss von ihrem Land getrennt.

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Eines Tages nun hörten sie beim Hüten der Tiere das wunderschöne Geräusch von Glocken. Ralph of Coggeshall lässt es in seiner Version aus einer Höhle kommen, in welche die Kinder ihrem Vieh folgten, bis sie am anderen Ende auf die Wolfsfalle stießen.

Die "Grünen Kinder" beschäftigen bis heute die Gemüter. Dabei können fantastische Spekulationen, sie seien aus einer Parallel- oder der Unterwelt zu uns gekommen, gar als Außerirdische hierher gebeamt worden sein, getrost vernachlässigt werden. Auch dass es sich bei ihnen um Elfen gehandelt hat, ist doch eher etwas für Fantasy-Fans.

Interessanter sind andere Interpretationen. In einer modernen Lesart wird die Geschichte in Zusammenhang mit einem Grafen gebracht, der in der Gegend der Vormund zweier Kinder gewesen sein soll, die er loswerden wollte. Zu diesem Zweck vergiftete er sie mit Arsen, setzte sie schließlich aus. Doch bevor sie starben, fand man sie. Das Überzeugende an der These: Bei Vergiftungen mit Arsen kann es zu Verfärbungen der Haut kommen.

Thereorie von den flämischen Flüchtlingen

Historiker wie Derek Brewer wiederum halten die Kinder für flämische Flüchtlinge, deren Eltern bei der Schlacht bei Fornham 1173 ums Leben kamen und die erst später unterernährt gerettet wurden. Die Hautfarbe sei danach die Folge einer Eisenmangelanämie. Freilich hätte der Chronist William unter diesen Umständen einen groben Fehler in seiner Datierung begangen.

Diesen Theorien stehen Kulturhistoriker und Mediävisten gegenüber, welche die Legende weniger nach einem historisch festen Kern absuchen, sondern vielmehr als Parabel auf die Verfasstheit einer Gemeinschaft lesen. In diesem Sinne argumentiert Jeffrey Jerome Cohen, der die Frage nach der Identität der Engländer nach der Eroberung durch die Normannen beschrieben sieht.

Dabei geht es um Assimilation und historische Kontinuitäten. Elizabeth Freeman und Michael Staunton wiederum sehen die "Grünen Kinder" als Erzählung über die Bedrohung der christlichen Gemeinschaft am Vorabend des Vierten Kreuzzugs. Wie auch immer: Beide Interpretationen erklären, warum das Thema des Sitten-, Sprach- und Religionserwerbs eine so große Rolle spielt.

Mittlerweile hat die Geschichte auch das Theater erobert. "Wolfpit" heißt ein Stück des Briten Glyn Maxwell, in dem es darum geht, wie die Menschen mit "dem Anderen" umgehen. Einige der Dorfbewohner wollen in dem Drama die Kinder ertränken, andere möchten ihre Arbeitskraft ausbeuten.

Doch vielleicht gibt es ja eine andere Möglichkeit: indem man miteinander spricht und sich besser kennenlernt. "Die grünen Kinder von Woolpit", sie sind wieder erstaunlich aktuell.

© SZ vom 26.01.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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