Verseuchtes Wasser:Flint im US-Bundesstaat Michigan: 100 000 Menschen vergiftet

Jesse Jackson Leads Rally Protesting Flint Water Crisis

Der Flint River in Flint, Michigan: Das Trinkwasser in der Stadt hat einen zu hohen Bleigehalt.

(Foto: AFP)

Mehr als anderthalb Jahre tranken die Bewohner der Stadt Flint im US-Bundesstaat Michigan Wasser mit viel zu hohem Bleianteil. Die Behörden schauten weg.

Von Johannes Kuhn, New Orleans

Von den 80 000 Beschäftigten, die einst in der Autofabrik von General Motors arbeiteten, sind nur noch wenige Tausend übrig; die Bevölkerungszahl der Stadt hat sich seit den Sechzigern halbiert. Die Menschen wissen, wie es sich anfühlt, verlassen zu werden in der Industriestadt Flint, Michigan. Doch wer hätte damit rechnen können, vergiftet zu werden?

Anderthalb Jahre haben die Bewohner bleihaltiges Wasser verwendet, sich damit gewaschen, es gekocht und getrunken. Sie hatten geahnt, dass der als fließende Müllhalde zweckentfremdete Flint River kein sauberes Wasser liefern kann. Sie haben die stinkende Brühe gesehen, die aus dem Wasserhahn kam, doch als sie nachfragten, wurden ihnen Lügen erzählt. Eine "Wasserkrise" nennen es die amerikanischen Medien, doch es ist eine Katastrophe. Für die 100 000 Bewohner von Flint, aber auch für das Vertrauen in sämtliche Institutionen.

Wie konnte es dazu kommen? Beginnen wir am Anfang. Im Frühjahr 2011 unterschrieb der republikanische Gouverneur Rick Snyder ein Gesetz, das die Kompetenzen von Notfall-Finanzverwaltern ausbaute. Diese Beamten konnten bis zu diesem Zeitpunkt für die Kontrolle über die Finanzen von überschuldeten Städten und Gemeinden eingesetzt werden; nach der neuen Regelung erhielten sie weitgehende Kontrolle über die Stadtpolitik. Auch Flint bekam 2011 einen solchen Notfall-Verwalter.

Der Bürgermeiser erhebt feierlich ein Glas mit Flusswasser

Die Position ist umstritten, weil sie über die Köpfe der gewählten Vertreter hinweg bestimmen kann. Schwarze Bürgerrechtler sind zudem der Meinung, dass in Michigan vor allem Gemeinden unter Aufsicht gestellt werden, in denen mehrheitlich Afroamerikaner leben. So wie in Flint.

Im April 2014 trifft der Verwalter, der im Laufe der Jahre mehrmals wechselt, eine folgenschwere Entscheidung: Um Geld zu sparen, soll das hoch verschuldete Flint sein Wasser künftig nicht mehr aus Detroit beziehen, sondern aus dem regionalen Huron-See. Das soll Millionen sparen, doch dorthin existiert noch keine Pipeline. Deshalb wird die Stadt übergangsweise Wasser aus dem Flint River erhalten. Am 25. April drückt der damalige Bürgermeister Dayne Walling einen Knopf und erhebt feierlich ein Glas mit dem neuen Flusswasser.

Schon nach wenigen Tagen klagen die ersten Bewohner über Hautausschlag, Übelkeit, Erschöpfung. Sie stellen Fragen, erhalten aber von der Verwaltung keine Antworten. "Niemand kümmerte sich, sie wiegelten ab", erzählt Stadtrat Wantwaz Davis dem Portal Fusion. Im Sommer gibt Michigans Umweltbehörde die Anweisung heraus, das Wasser nur abgekocht zu verzehren - es werden E-Coli-Bakterien gefunden. "Meine Familie und ich trinken das Wasser und verwenden es jeden Tag", sagt der Bürgermeister und versucht so die wütenden Bewohner zu beruhigen. Im Herbst hört General Motors auf, das Wasser in seiner Motorenfabrik zu verwenden, weil es Rostschäden verursacht. Der Autohersteller lässt sich das Wasser danach per Lastwagen liefern.

Die Bewohner von Flint können sich diesen Luxus nicht leisten, die Wasserpreise der Stadt gehören ohnehin zu den höchsten im Land. Anfang 2015 kommt der Verdacht auf, dass das Wasser Blei enthält. Michigans Umweltbehörde wiegelt ab. Der Notfall-Verwalter lehnt eine Rückkehr zum Wasser aus Detroit ab - kein Geld. Flint setzt stattdessen eine Kommission ein, die Finanzmittel für die Verbesserung der Wasserqualität freigibt.

Zwei Wasserproben sollen beseitigt worden sein

Die Umweltbehörde verkündet im Juli, eine eigene Untersuchung habe keine Auffälligkeiten gezeigt, die Werte hätten sich sogar verbessert. "Jeder, der sich Sorgen macht, kann sich entspannen", sagt ein Sprecher damals. Später stellt sich heraus, dass die Tests nicht sachgemäß durchgeführt wurden und zudem zwei Proben möglicherweise unter einem Vorwand beseitigt wurden (die Behörde bestreitet das).

Doch nicht nur der Bundesstaat Michigan verharmlost. Schon im Februar warnt ein Mitarbeiter der Bundesbehörde Environmental Protection Agency (EPA) intern vor Problemen im Trinkwasser. Im Juni schreibt er einen ausführlichen Bericht. Seine Vorgesetzten beschließen, ihn zu ignorieren und der Behörde vor Ort zu vertrauen.

Im August 2015 stellt die in Flint praktizierende Ärztin Mona Hanna-Attisha erhöhte Bleiwerte im Blut einiger Kinder fest, nachdem deren Eltern in der Praxis von Haarausfall und Ausschlag berichtet hatten. In einer nachfolgenden Untersuchung von 700 Kindern zeigt sich, dass fünf Prozent einen erhöhten Bleianteil im Blut haben, das ist ein doppelt so hoher Anteil wie zuvor.

Auswärtige Wissenschaftler der Virginia Tech-Universität reisen an und nehmen Proben von mehr als 300 Haushalten. Das erschreckende Resultat: Der Bleigehalt liegt flächendeckend über den verträglichen Werten, in einem Fall sogar drei Mal höher als bei Flüssigkeiten, die in die Kategorie "Giftmüll" fallen. Die Wissenschaftler und eine Gruppe lokaler Ärzte gehen im September an die Öffentlichkeit und fordern, das Wasser aus dem Fluss nicht mehr zu verwenden. Die Behörde für Umweltqualität betont, das Wasser sei in Ordnung.

100 Dollar hätten die Katastrophe verhindert

Kurz darauf schaltet sich Gouverneur Snyder ein und fordert die Stadt auf, in das Wassersystem von Detroit zurückzukehren. In den Wochen danach kommt die Wahrheit ans Licht: Das aggressive Flusswasser hat die beinahe ein Jahrhundert alten Bleirohre der Stadt angegriffen und so das Metall freigesetzt. Zudem verstießen die Verantwortlichen gegen staatliche Umweltauflagen, weil sie auf Anti-Rost-Chemikalien verzichteten - offenbar auf Rat der Umweltbehörde. Die Maßnahme hätte 100 Dollar pro Tag gekostet und die Katastrophe verhindert.

Nun muss Flint womöglich sein komplettes Abwassersystem für geschätzte 1,5 Milliarden Dollar erneuern. Inzwischen ist die Wasserversorgung wieder an Detroit angeschlossen, allerdings ist das Wasser nur für Körperwäsche und noch nicht zum Trinken freigegeben. Die Nationalgarde verteilt seit einigen Wochen Trinkwasser in Plastikflaschen, nachdem der Notstand ausgerufen wurde.

Der Bürgermeister von Flint verlor im Zuge der Kontroverse im November die Wahl. Der Chef der Umweltbehörde von Michigan ist inzwischen zurückgetreten. Die Bundesbehörde EPA hat eine Untersuchung der Vorfälle angekündigt. US-Präsident Obama hat sich mit Flints neuer Bürgermeisterin getroffen und finanzielle Hilfe freigegeben. Gouverneur Rick Snyder entschuldigte sich in dieser Woche. "Die Regierung hat euch im Stich gelassen - Politiker auf Bundes-, Staaten- und Kommunal-Ebene - weil wir das Vertrauen gebrochen haben, dass ihr in uns gesetzt habt." Auf Rücktrittsforderungen reagierte er mit der Veröffentlichung seiner E-Mails aus den Jahren 2014 und 2015.

Nachdem die Bevölkerung anderthalb Jahre vergiftetes Wasser konsumierte, ist das Vertrauen in die Institutionen auf dem Tiefpunkt. Keine Kontrollinstanz deckte den Behördenpfusch auf, keine Aufseher waren zur Stelle. Wie soll man da glauben, dass die verteilten Wasserfilter helfen? "Sie haben ihr Vertrauen in die Fähigkeit der Regierung verloren, ihnen zu helfen", erzählte der Sheriff von Flint dem Sender NBC. "Und es ist schwer zu sagen: 'Du hast Unrecht.'"

"Du bezahlst für Gift. Ich zahle für Wasser, das Giftmüll ist", sagte die Bewohnerin Rhonda Kelso dem Sender ABC. Sie hat mit einigen anderen eine Sammelklage eingereicht. Die Katastrophe von Flint ist noch lange nicht zu Ende: Die Langzeitschäden, die Blei im Körper anrichten, lassen sich erst nach einem Jahrzehnt feststellen.

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