USA nach Hurrikan "Sandy":Der Schock nach dem Schock

Am Tag zwei nach Hurrikan "Sandy" wird das Ausmaß der Katastrophe an der amerikanischen Ostküste immer klarer. Millionen Menschen haben weiterhin keinen Strom, Plünderer marodieren durch die Straßen, Waren in Supermärkten von Maine bis North Carolina sind verseucht. Und die Menschen müssen erkennen: Eine Metropole wie New York City ist sehr verletzlich.

Nikolaus Piper

Nach dem Sturm kamen die Plünderer. In Coney Island, einem von Flut und Schlamm besonders betroffenen Stadtteil Brooklyns, suchten junge Männer die normalerweise unter Ausflüglern beliebte Mermaid Avenue heim, schlugen Scheiben von Geschäften ein und zogen mit Flachbildschirmen und anderem Gerät davon.

Die Ocean View Street ist gesäumt von verschlammten Autos, an denen überall die Scheiben auf der Fahrerseite eingeschlagen sind. Plünderungen sind bisher die Ausnahme geblieben in New York; bisher hat die Polizei 13 Tatverdächtige festgenommen. Aber Nachrichten dieser Art sorgen für Angst in einer Stadt, in der immer noch 676.000 Haushalte ohne Strom sind. Viele haben ihre Wohnungen verlassen, um bei Freunden, in Hotels oder in Notunterkünften Zuflucht zu suchen. Jetzt sorgen sie sich um ihr Hab und Gut.

In Red Hook, ebenfalls in der Überschwemmungszone Brooklyns, muss "Fairway", einer der größten Supermärkte der Gegend, sein komplettes Warenangebot vernichten. Arbeiter werfen die verdorbenen Lebensmittel in Container-Lastwagen. Anwohner, die auf Verwertbares für ihre Küche gehofft hatten, werden abgewiesen: Zu gefährlich, die Ware könnte ungenießbar sein.

In Sewaren, an der Grenze zwischen New York und New Jersey, hat der Sturm ein Leck in ein Öllager von Shell gerissen, Eine bisher unbekannte Menge Öl ist in die Bucht von New York gelaufen.

Drei Tage nachdem Hurrikan Sandy die amerikanische Ostküste heimgesucht hat, wird zunehmend klar, dass die Schäden viel schlimmer sind als zunächst befürchtet. Die Börden setzten die Zahl der Todesopfer mittlerweile auf 82 herauf, vermutlich werden es in den kommenden Tagen noch deutlich mehr werden. Knapp die Hälfte der Opfer ist in New York zu beklagen. Sechs Millionen Haushalte und Unternehmen waren am Donnerstag noch ohne Stromversorgung. Auch die Mobilfunknetze waren in vielen Gegenden stark eingeschränkt.

Gesamtschäden bei bis zu 50 Milliarden Dollar

Besonders schwer ist der Bundesstaat New Jersey betroffen, wo der Sturm in der Nacht zum Dienstag auf die Küste gestoßen war. Hier wurden ganze Stadtviertel zerstört, viele Gegenden sind immer noch überschwemmt, ein Viertel der Bevölkerung musste am Donnerstag immer noch ohne Elektrizität ausharren, in mehreren Küstenstädten wurden die Uferpromenaden komplett zerstört. Einige Gemeinden verhängten nächtliche Ausgangssperren, um Plünderungen vorzubeugen. In Hoboken, gegenüber von New York am Hudson River, musste die Nationalgarde 50.000 Menschen aus ihren überfluteten Häusern befreien.

Die Analysefirma Eqecat hat ihre Schätzungen für den Gesamtschaden von Sandy heraufgesetzt: Sie sollen jetzt bei 30 bis 50 Milliarden Dollar liegen; zehn bis 20 Milliarden davon sollen versichert sein. Damit wäre Sandy der zweitteuerste Hurrikan der US-Geschichte nach Katrina, der 2005 New Orleans verwüstete.

Unterdessen versucht New York, zur Normalität zurückzukehren. U-Bahnen und Busse verkehren wieder mit ausgedünntem Fahrplan. Noch immer ist es unmöglich, mit der U-Bahn von Brooklyn nach Manhattan zu kommen. Die New Yorker Schulen sind geschlossen. Noch am Mittwoch war Benzin an fast allen Tankstellen ausverkauft. Gleichzeitig ging eine Welle der Hilfsbereitschaft durch New York. Die Menschen spendeten Lebensmittelkonserven, Kleider und Geld für die am schlimmsten Betroffenen, städtische Angestellte arbeiteten freiwillig in Notunterkünften oder als Katastrophenhelfer.

Wiederaufbauen? Klar, aber das Problem liegt tiefer

Bürgermeister Michael Bloomberg sagte, die Stadt sei "zurück auf dem Weg in die Normalität", er stellte die Bürger aber auch auf ein Verkehrschaos ein. Ein Erlass Bloombergs schreibt vor, dass nach Manhattan bis auf Weiteres nur Autos fahren dürfen, in denen drei Menschen oder mehr sitzen. Die Regel gilt vor Beginn des abendlichen Berufsverkehrs auch für Taxis. Die Flughäfen John F. Kennedy und La Guardia waren wieder offen, aber nur für einen stark eingeschränkten Verkehr. Auch die nationale Bahngesellschaft Amtrak nahm ihren Dienst an der Ostküste wieder auf.

Klar ist, dass der Wiederaufbau an der Küste Jahre dauern wird. Sandy hat insgesamt 15 Bundesstaaten verwüstet. Hier leben 30 Prozent aller Amerikaner, die ein Drittel des US-Bruttoinlandsprodukts erwirtschaften. Sollte hier das Wirtschaftsleben komplett ausfallen, würde dies täglich 18 Milliarden Dollar kosten.

Volkswirtschaften erholen sich nach Naturkatastrophen in der Regel relativ schnell. Doch das eigentliche Problem liegt tiefer: Die Staaten an der Ostküste werden sich grundsätzlich besser gegen Hochwasser schützen müssen, wenn sie eine Wiederholung der Sandy-Katastrophe ausschließen wollen. "New York ist nicht ausgelegt auf Hochwässer wie dieses", sagte Gouverneur Andrew Cuomo bei einer Besichtigungstour an der besonders betroffenen Südspitze Manhattans. Dann setzte er sich von Leuten ab, die von einer "Jahrhundertflut" im Zusammenhang mit diesem Sturm gesprochen haben: "So etwas wie eine Jahrhundertflut gibt es nicht. Das sind extreme Wetterbedingungen, deren Häufigkeit wird steigen."

Und hier kommt der Klimawandel ins Spiel. Hinter der Aussage des Gouverneurs stehen konkrete Zahlen; sie stehen im Stadtentwicklungsplan New Yorks aus dem Jahr 2007: "Wir stehen der Bedrohung durch den steigenden Meeresspiegel und schwere Stürme gegenüber", heißt es dort. "Am Battery Park in Lower Manhattan ist das Wasser in unserem Hafen während des vergangenen Jahrhunderts um mehr als 30 Zentimeter gestiegen; bis 2030 könnten es weitere zwölf Zentimeter werden." Und: "Beim jetzigen Meeresspiegel müssen wir alle 80 Jahre mit einer Jahrhundertflut rechnen." Der Plan warnt aber, dass die Frequenz zunehmen könnte; von der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts an könnten Fluten bereits alle 19 Jahre eintreten.

Vorsorge ist möglich - aber teuer

Die Bedrohung ist bekannt und exakt beschrieben. Langfristige Abhilfe ist möglich, aber sie ist teuer und braucht viel Zeit. Schon jetzt ist New York engagiert im Kampf gegen den Klimawandel wie kaum eine andere Stadt in den USA. Es geht aber auch um den Schutz von Millionen Menschen vor den bereits heute eintretenden Folgen des Klimawandels. Eine Task Force des Bundesstaates hatte vor zwei Jahren einen 100 Seiten umfassenden Bericht zum Umgang New Yorks mit dem steigenden Meeresspiegel verfasst. Er geriet bald nach seiner Veröffentlichung praktisch in Vergessenheit, vielleicht weil seine Empfehlungen teilweise hart und unpopulär sind: Einige Siedlungen in Küstennähe sollen aufgegeben werden, Deiche und andere Schutzanlagen sollen den Zugang zu den Stränden einschränken. Behörden des Bundesstaates sollen das Recht bekommen, gegen Gemeinden vorzugehen, die den Küstenschutz missachten.

Die Expertenberichte belegen, was Millionen New Yorker seit Montagnacht bitter am eigenen Leib erfahren. Ihre Stadt ist viel verletzlicher, als dies der Selbstwahrnehmung der meisten Einwohner entspricht: die Stadt, die niemals schläft.

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