Unterbringung von Schuldunfähigen:Breiviks größte Furcht

Gruppentherapie und Stecker zusammenschrauben: Auf schuldunfähige Täter, die im Maßregelvollzug untergebracht werden, wartet ein strukturierter Alltag, erklärt der Münchner Psychologe Norbert Nedopil. Sollte der norwegische Attentäter Anders Behring Breivik im morgigen Urteilsspruch für geisteskrank erklärt werden, kommt auch er in eine psychiatrische Klinik. Für ihn selbst wäre das "schlimmer als der Tod".

Vanessa Steinmetz

Es ist ein großes kastenförmiges Gebäude aus rotem Backstein. Zum Eingang führt eine schmal zulaufende Steintreppe, die mehrstöckigen Flügel des Gebäudes sind ein bisschen niedriger als das Hauptgebäude, die Fenster sind weiß gerahmt. Rund herum zieht sich ein hoher Zaun mit Stacheldraht und Videoüberwachung. Wenn Anders Behring Breivik, der vor mehr als einem Jahr bei Anschlägen im Regierungsviertel in Oslo und auf der Insel Utøya 77 Menschen tötete, an diesem Freitag schuldig gesprochen wird - dann wird er hinter den Mauern des Hochsicherheitsgefängnisses Ila nahe der norwegischen Hauptstadt verschwinden.

Hochsicherheitsgefängnis Ila 2 Norwegen - Prozess gegen Breivik

Das Hochsicherheitsgefängnis Ila nahe Oslo: Ein Trakt soll zu einer psychiatrischen Klinik für "sehr spezielle Fälle" ausgebaut werden.

(Foto: AFP)

Doch auch wenn er vom Osloer Bezirksgericht als geisteskrank eingestuft würde und damit nicht im juristischen Sinne für seine Taten verantwortlich gemacht werden könne, könnte er in dem Gefängnis untergebracht werden. Dort soll ein Trakt zu einem psychiatrischen Krankenhaus umgebaut werden. Diese Psychiatrie sei für "sehr spezielle Fälle" wie Breivik vorgesehen, kündigte der stellvertretende norwegische Gesundheitsminister Robin Koss bereits im Juni an.

Ob nach dem Amoklauf in einem US-Kino in Aurora, nach Sexualdelikten oder Familientragödien hierzulande - immer wieder müssen sich Gerichte die Frage stellen, ob der Täter schuldfähig war und seine Strafe im Gefängnis absitzen muss, oder ob er psychisch gestört und damit schuldunfähig ist. In Deutschland bedeutet Letzteres, dass der Täter in eine psychiatrische Einrichtung eingewiesen wird, den sogenannten Maßregelvollzug. 2011 saßen nach Angaben des Statistischen Bundesamtes fast 10.000 straffällige Menschen in psychiatrischen Krankenhäusern und Entziehungsanstalten.

Schutz der Allgemeinheit

In Bayern bleiben die Patienten im Schnitt etwa sechs Jahre lang in der Klinik. Eine Heilung sei nicht das primäre Ziel - sondern dafür zu sorgen, dass die Patienten nicht rückfällig werden, sagt Professor Norbert Nedopil, Leiter der Abteilung für Forensische Psychiatrie an der Uniklinik der Ludwig-Maximilians-Universität München. Priorität habe der Schutz der Allgemeinheit. "Wenn jemand beispielsweise manisch-depressiv ist, sich deswegen überschätzt und eine Bankfilliale überfällt, dann ist für uns entscheidend, dass er das nicht wieder tut - und nicht, dass er sich durch die Therapie besser fühlt", sagt Nedopil.

Dafür werden die schuldunfähigen Straftäter medikamentös eingestellt und absolvieren in der Regel täglich spezielle Gruppen- und Einzeltherapien. Die können verschiedene Module beinhalten, zum Beispiel den Umgang mit Ärger, die Stärkung der sozialen Kompetenz und das Erkennen der eigenen Risikofaktoren. Für Sexualstraftäter gibt es spezielle Therapieprogramme.

In der Psychiatrie können sich aber auch neue Probleme ergeben: "Manche realisieren die Tat erst in einem klaren Moment", sagt Nedopil. Das kann Jahre dauern. Sickert die Erkenntnis dann durch, sind die Patienten nicht selten suizidgefährdet. "Sie müssen dann mit der Last herumlaufen, beispielsweise im Wahn die eigenen Kinder getötet zu haben."

Experten uneinig

Wichtig sei, den Insassen eine Struktur für ihren Alltag zu bieten. Das bedeutet, dass sie mehrere Stunden am Tag arbeiten, zum Beispiel Industriearbeit wie Stecker zusammenschrauben. Manche holen indes Schulabschlüsse nach, die mittlere Reife, Abitur, einige absolvieren gar einen Hochschulabschluss.

Viel Gewicht - mehr als in den vergangenen Jahren - werde heutzutage auf eine sinnvolle Freizeitgestaltung der Patienten gelegt. Malen, Zeichnen, mit Ton arbeiten oder Sport stehen deshalb auf dem Programm. "Alles mögliche, damit der Tag nicht so dahinplempert", sagt Nedopil.

In der Regel lockert sich die Bewachung der Patienten mit der Zeit. Zu Beginn werden sie noch "geschlossen" auf einer Station untergebracht, auch der Hof ist von Mauern umgeben und streng bewacht. Später dürfen die Patienten, die für die Allgemeinheit als ungefährlich gelten, auf dem Gelände der Klinik und nach einiger Zeit außerhalb der Psychiatrie herumlaufen. Die Rückfallquote liegt auch dank der ambulanten Nachversorgung bei etwa ein bis zwei Prozent - im Strafvollzug hingegen ist sie zehnmal so hoch.

Schuldunfähig - oder nicht?

Doch wie entscheidet sich überhaupt, ob ein Täter zum Tatzeitpunkt voll schuldfähig war, oder nicht? Im Prozess gegen einen erwachsenen Angeklagten, bei dem Zweifel an dessen geistiger Gesundheit herrschen, wird ein psychiatrischer Gutachter hinzugezogen. Der untersucht, ob bei dem Angeklagten eine krankhafte psychische Störung vorliegt, ob er in Folge dessen Recht nicht von Unrecht unterscheiden konnte und die Kontrolle über sein Handeln verlor. Und ob diese Krankheit in Zusammenhang mit der Tat steht.

Unterbringung von Schuldunfähigen: Professor Norbert Nedopil, Leiter der Abteilung für Forensische Psychiatrie an der Uniklinik der LMU: "Auch bei einem Wahngetriebenen gibt es Vorplanung."

Professor Norbert Nedopil, Leiter der Abteilung für Forensische Psychiatrie an der Uniklinik der LMU: "Auch bei einem Wahngetriebenen gibt es Vorplanung."

(Foto: HEDDERGOTT)

Hier liegt ein entscheidender Unterschied zum norwegischen Rechtsprinzip: "In Norwegen wird die Frage nach dem Zusammenhang nicht gestellt", erläutert Nedopil. Die psychische Krankheit an sich gilt demnach als ausschlaggebend. "Wenn bei einem Angeklagten eine Schizophrenie festgestellt wird, ist es nicht erheblich, ob diese auch zu der Tat geführt hat - er gilt dann als schuldunfähig."

In dem Prozess gegen den Attentäter herrschte unter den Experten Uneinigkeit. Ein erstes psychiatrisches Gutachten bescheinigte Breivik schon Monate vor Beginn der Verhandlung eine paranoide Schizophrenie. Ein zweites kam zu dem Schluss, dass er nicht unter einer Psychose litt. Ankläger Sven Holden sieht berechtigte Zweifel an der Zurechnungsfähigkkeit des Attentäters. Der Staatsanwalt argumentierte in seinem Schlussplädoyer, es sei "schlimmer, jemanden, der an einer Psychose leidet, ins Gefängnis zu schicken, als jemanden, der nicht psychotisch ist, in psychiatrische Behandlung zu geben".

Die "ultimative Kränkung"

Manche Beobachter werten die Tatsache, dass Breivik die Tat minutiös geplant hat und ein mehr als 1500 Seiten umfassendes Manifest zu seiner kruden Ideologie verfasste, als Zeichen dafür, dass er genau wusste, was er tat. Laut Nedopil lässt das aber nicht unbedingt auf seinen geistigen Zustand schließen. "Auch bei einem Wahngetriebenen gibt es Vorplanung", sagt der Forensiker. Eine Wahnvorstellung könne sich über Jahre verfestigen, bis sie zum Ausbruch komme.

Wird Breivik für schuldunfähig erklärt, könnte er jedes Jahr eine Prüfung seines Falls beantragen; auch ohne Antrag müsste die Justiz den Fall alle drei Jahre prüfen. Sollte er als geheilt aber weiter als gefährlich eingestuft werden, erlaubt das Gesetz seine Überweisung ins Gefängnis. Auch dann würde er wohl nach Ila kommen. Für Breivik wäre das eine Erleichterung.

Sein Verteidiger Geir Lippestad hat in seinem mehrstündigen Plädoyer versucht, das Gericht davon zu überzeugen, dass sein Mandant kein geisteskranker Psychopath sei, sondern ein politisch motivierter Terrorist. Deshalb gehöre er ins Gefängnis und nicht in die Psychiatrie. Der Attentäter drohte im Verlauf der Verhandlung, er werde in Berufung gehen, falls das Gericht ihn für unzurechnungsfähig erklären sollte.

Schon vor dem Prozess hatte Breivik in einem Brief erklärt, dass die Einstufung als geisteskrank für ihn die "ultimative Kränkung" sei - die Einweisung in eine geschlossene Anstalt halte er für "schlimmer als den Tod".

Mit Material von AFP

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