Reportage:Der verlorene Sohn

Bei einer Kindesentführung ins Ausland stößt das deutsche Recht an seine Grenzen: Eine Mutter, die eher ins Gefängnis geht, als den Aufenthalt des Jungen zu verraten - ein verzweifelter Vater und ein Urteil, das keinem nützt

Bernd Kastner

Werner Kapp sagt, er habe diese Ahnung schon lange gehabt. Trotzdem brachte er Sven an jenem Tag in den Kindergarten, wie alle zwei Wochen, wenn das Kind vom Vater zur Mutter wechselt. Sven, vier Jahre alt, lebt eine Woche hier, eine Woche dort.

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Am 23.Februar 2004 holte Elena Kapp den Jungen vom Kindergarten ab - Tags darauf erreicht sie Bulgarien. Svens Vater hat ihn seitdem nicht mehr gesehen.

(Foto: Foto: AP)

Es ist der Rosenmontag 2004, und irgendwann an diesem Tag holt Elena Kapp den Kleinen vom Kindergarten ab, doch fährt sie nicht nach Hause. Seither wartet der Vater auf ein Lebenszeichen des Jungen. Eineinhalb Jahre später wird die Mutter in Handschellen in den Gerichtssaal geführt. Sie nimmt auf der Anklagebank Platz, ihr gegenüber der Vater ihres Kindes. Sie schaut ihn nicht an. Welchen Beruf üben Sie aus?, fragt der Richter. "Zurzeit bin ich Mutter."

Diesen Beruf kann Elena Kapp jedoch nicht mehr ausüben. Seit Juni sitzt sie in Neudeck, dem Frauengefängnis von München, man beschuldigt sie, ihren Sohn ins Ausland entführt zu haben. Die Mutter ist die Einzige in dem Münchner Gerichtssaal, die weiß, wo Sven ist. Sie lässt eine Erklärung verlesen: "Ich weise darauf hin, dass ich Sven nicht an den Vater ausliefern werde." Lieber Gefängnis.

Die Geschichte der Familie, die nie eine richtige werden sollte, beginnt in einer Disco in Bukarest. 1998 arbeitet Kapp in Rumänien, er ist Programmierer. Am Wochenende ist Zeit zum Tanzen, und ihm fällt diese Frau auf, jung ist sie, attraktiv und intelligent. Der Mann aus dem Erdinger Moos, damals 32, und die 23-jährige bulgarische Studentin Elena verlieben sich. Die Gefühle erkalten bald. Doch da ist Elena schon schwanger.

Sie diskutieren über eine Abtreibung, und später wird Kapp sagen, Sven sei "kein Wunschkind" gewesen. Doch die Frau will das Kind. Das Paar geht nach Deutschland und bezieht eine Wohnung im Haus seiner Eltern nahe des Münchner Flughafens. Elena lernt schnell Deutsch, die werdenden Eltern schöpfen Hoffnung, heiraten, fahren in den Flitterwochen nach Venedig.

"Ich hasse die Familie"

Die Hochzeit sei der größte Fehler ihrer Mandantin gewesen, wird die Anwältin der Mutter später sagen. Hätte sie ihr Kind unverheiratet und in Bulgarien geboren, säße sie jetzt nicht im Knast. Im Januar 2000 kommt Sven zur Welt. "Als der Bub in meinem Arm lag", sagt der Vater, "da war es ein Wunschkind."

Zwischen Svens Geburt und seinem Verschwinden liegen vier Jahre. Jahre des Streits. 200.000 Ehen scheitern pro Jahr in Deutschland, 170.000 Kinder stehen zwischen Vater und Mutter. Dass Sven bald wie ein Waise leben muss, aus der Trennung eine Tragödie wird, ahnt zunächst niemand.

250 bis 300 Entführungen von Kindern im Jahr aus oder nach Deutschland werden offiziell registriert, die Zahlen steigen seit Jahren. Von sogar 2.000 bis 3.000 solcher Fälle geht die Selbsthilfegruppe "Vermisste Kinder" aus. Die Leiterin Monika Bruhns sagt: "Oft geht es den Eltern nicht ums Wohl des Kindes, sondern darum, den anderen zu bestrafen, zu verletzen, kaputt zu machen."

Als sie noch gemeinsam lebten, hält Elena Kapp dem Vater vor, sich weder um sie noch das Kind zu kümmern. Sie müsse immer zu Hause bleiben, er gebe ihr zu wenig zum Essen, schlage sie sogar. Mehrmals erstattet sie Anzeige bei der Polizei, flüchtet ins Frauenhaus.

Werner Kapp bestreitet alle Schläge und wirft der Mutter vor, Sven zu vernachlässigen. Einmal habe er den Jungen inmitten von Glasscherben sitzend vorgefunden. Er installiert eine Kamera, um das Verhalten der Mutter zu dokumentieren, die Bilder liefern keinen Beweis. Der Vater schämt sich.

Der verlorene Sohn

Eine Familientherapeutin hat einen Satz der Mutter notiert: "Ich hasse die Familie Kapp. Ich werde alles daran setzen, die Familie fertig zu machen." Elena fühlt sich von der Schwiegermutter erniedrigt. Von psychischer Gewalt spricht der Familienrichter aus Freising, notiert aber: "Eine Flucht der Mutter mit Sven nach Bulgarien ist nicht ernsthaft zu befürchten."

Minutiös regeln Gerichte, bei wem das Kind wie lange sein soll, die Eltern treffen sich nur in Beratungsstellen und vor Gericht. Sie lehnen Therapeuten und Gutachter ab, ausgerechnet die, die ihnen helfen könnten, bombardieren sie mit Vorwürfen: parteiisch! Rassistisch!

Als Sven vier ist und der Vater bereits mit seiner neuen Partnerin lebt, mit der er ein weiteres Kind hat, besucht ein Gerichtsgutachter erneut die zerstörte Familie Kapp. Er zeichnet das Bild eines schüchternen, leidenden Kindes. Sven stottert, kaut an den Nägeln, macht in die Hose, wacht nachts auf, hat Angst. Wochenlang übergibt er sich, steckt die Faust in den Mund und sagt: "Ich will spucken."

Im Kindergarten hält er keine Regel ein, ist unsicher und unkonzentriert. Sven sagt zu dem Psychologen: Ob seine Eltern ihn immer lieb hätten, wisse er nicht: "Bei meinem Papa gefällt es mir am besten, aber bei meiner Mama auch." Er will bei beiden wohnen. "Wir sind beide schuld, dass es Sven so schlecht geht", gibt der Vater zu Protokoll. Der Gutachter bezeichnet die Eltern zwar "prinzipiell als erziehungsfähig", doch registriert er Kindswohlschädigung durch ihren zwanghaften Kampf gegeneinander.

Die Mutter fürchtet, dass das Gericht ihr das Aufenthaltsbestimmungsrecht entzieht. Vor Gericht wird sie sagen: Ich hatte doch dieses Recht, also durfte ich mit Sven gehen. Sie wird hören, dass das Aufenthaltsbestimmungsrecht nicht viel wert ist, weil sie trotzdem verpflichtet ist, dem Vater den Umgang zu ermöglichen.

Sven müsse etwas gewusst haben, sagt der Vater. "Papa, wenn ich in Bulgarien bin, dann seh' ich dich ja gar nicht mehr", habe er am letzten gemeinsamen Wochenende gesagt. "Wie kommst du denn darauf?", habe der Vater geantwortet, "Papa lässt dich doch nicht allein!"

Zwei verfeindete Anwältinnen

Am 23.Februar 2004 fährt Elena Kapp zum Münchner Busbahnhof, tags darauf erreicht sie Bulgarien. Den Jungen hat sie dabei. Ihrem damaligen Freund hinterlässt sie einen Abschiedsbrief: "Es gibt einen einzigen Mann für mich, das ist mein Sohn." Ihrer Anwältin schreibt sie: "Ich habe mein Vertrauen in die deutschen Gerichte verloren."

Svens Geschichte ist auch eine Geschichte der Anwältinnen. Vor den Familiengerichten und im Strafprozess, in dem der Vater Nebenkläger ist, treten Cornelia Strasser für die Mutter und Petra Kuchenreuther für den Vater gegeneinander an. "Wir sind bestens befeindet", erklärt Strasser. Kuchenreuther sagt: "Ich gebe ihr nicht die Hand. Ich traue ihr nicht."

Kuchenreuther tritt selbst in den Zeugenstand, sie glaubt, ihr Gegenpart sei in die Flucht verwickelt. "Das ist ein Verbrechen am Kind", sagt sie. Strasser argumentiert: "Ich denke, dass ein so kleines Kind zu seiner Mutter gehört." Die Anwälte kämpfen um, nicht für das Kind. Sie bauen keine Brücken.

"Die Schärfe hat Frau Strasser ins Verfahren gebracht", sagt der Familienrichter. Er sei überzeugt, Strasser habe "einen Anteil daran, dass das arme Kind jetzt mehrere Monate ganz auf die Eltern verzichten muss". Zum ersten Mal in seiner Karriere erlässt der Richter einen Haftbefehl, um die Herausgabe des Kinds zu erzwingen.

Von jetzt an telefoniert Werner Kapp viel, verschickt Faxe und E-Mails, an die Gerichte, die Staatsanwaltschaft, an den Ministerpräsidenten, schreibt "Eilt sehr" darüber und macht sechs Ausrufezeichen. "Ich bin kurz vorm Verzweifeln", faxt er an den Bundeskanzler. Im Mai 2004 eröffnet die Staatsanwaltschaft ein Verfahren wegen "Entziehung Minderjähriger".

Werner Kapp führt durch seinen Heimatort, über den die Flugzeuge donnern. Zeigt, wo sie gewohnt haben, eine typische Vorortsiedlung, jeder kennt jeden. Er öffnet das Gartenhäuschen mit Svens Spielsachen. Zu Hause, sagt er, liege noch das Weihnachtsgeschenk, ein Gabelstapler, Sven hat ihn sich gewünscht.

Werner Kapp, der das Programmieren gelernt hat und erkennen muss, dass sich seine und Svens Zukunft nicht mehr programmieren lässt, spricht leise, jedes Lächeln wirkt gequält. Wo ist der Bub? Wie geht es ihm? Geht er in den Kindergarten? Er sagt, er dürfe sich nicht zu sehr hineinsteigern, seiner neuen Familie zuliebe.

Christian Schmidt-Sommerfeld, Chef der Münchner Staatsanwaltschaft, erklärt, dass nach deutschem Recht auf Kindesentzug bis zu fünf Jahre Haft stehen. Was aber würde mit Sven passieren, fragt er, wenn man die Mutter verhaftet? "Hier stößt das Recht an seine Grenzen." Dennoch erlassen die Ermittler einen europaweiten Haftbefehl.

Der verlorene Sohn

"Die strafrechtliche Schiene ist im Sinne des Kindswohls selten das geeignete Vehikel." Hans-Michael Veith sagt das. Es gibt in Deutschland für alles eine Behörde, sogar für Kindsentführungen. Veith leitet beim Generalbundesanwalt eine Abteilung, die auf Basis internationaler Abkommen versucht, diplomatischer Mittler zu sein zwischen Ländern und Rechtssystemen.

Ziel ist, dass der andere Staat deutsche Sorgerechts-Urteile anerkennt. Das dauert. "Der Zeitfaktor", sagt Veith, "spielt eine große Rolle." Ein Jahr sei die entscheidende Grenze. Wenn ein Kind einmal so lange von einem Elternteil fern gehalten wurde, werde aus Unrecht schnell Recht. Oft wollten die Gerichte das Kind dann nicht wieder aus seiner Umgebung herausreißen.

Ein Jahr! Die Zeit rennt dem Vater davon. Das Familienverfahren könnte in Bulgarien weitergehen, doch die Mutter ist verschwunden. Kapp engagiert in Sofia einen Anwalt und drei Detektive, die Suche wird sein Leben. Bei der bulgarischen Polizei will er Vermisstenanzeige aufgeben und erhält zur Antwort: Das Kind ist doch bei seiner Mutter.

Verzweifelt klappert Kapp in Bulgarien Kindergärten ab. Was, wenn er ihn fände? "Ich weiß es nicht", sagt der Vater. Er weiß auch nicht, wie er sich eine Zukunft mit dem Sohn vorstellen soll, nur so viel weiß er: Ein Lebenszeichen wünscht er sich, ein Foto, einen Anruf vielleicht, und sonst das, was für Sven am besten ist.

Die Spur der Mutter findet sich erst im Juni 2005 wieder. Sie fliegt nach Zypern in den Urlaub. Ohne Sven. Bei der Einreise wird sie verhaftet, bald nach Deutschland ausgeliefert.

Das Frauengefängnis Neudeck liegt direkt unterhalb vom Nockherberg, dem Münchner Bierberg. Frau Kapp begrüßt ihre Anwältin mit Küsschen links, Küsschen rechts. Die Mutter wirkt nicht bitter, eher siegessicher, fröhlich fast, sagt, sie habe sich abgefunden mit der Haft, ein paar Monate noch, glaubt sie.

Ihrem Ex-Mann gehe es nicht ums Kind, sonst hätte er sie nicht ins Gefängnis werfen lassen. "Ihm geht es um persönliche Rache, weil ich nicht gehorcht habe in der Ehe." Harte Worte, und doch wirkt sie weich, jetzt in diesem Besuchszimmer. Man kann sie sich gut als sorgende Mutter vorstellen.

Sven gehe es jetzt viel besser, sagt sie. All die Auffälligkeiten seien verschwunden. Nach seinem Vater frage er nicht mehr, Deutsch zu sprechen habe er aufgehört, als sie deutsche Filme mit ihm anschauen wollte, habe er protestiert: Das versteh' ich nicht!

Da lachen Mutter und Anwältin, es klingt wie das Kichern zweier Freundinnen. Natürlich, sagt Elena Kapp, "das Kind braucht seinen Vater und er das Kind". Ja, es sei "grauenhaft" für den Vater, den Sohn so lange nicht zu sehen. Und ja, wahrscheinlich werde Sven psychische Schäden davontragen, "dagegen kann man nichts machen".

Versuch eines Handels

Ihre Worte, ihre Gesten deuten nicht auf den geringsten Zweifel an ihrem Handeln. Sie opfert sich und ihr Kind, um eine Zukunft mit dem Kind zu haben. Irgendwann. Wenn der Vater zustimmt, dass die beiden sich regelmäßig sehen, Sven aber in Bulgarien bleibt, wäre eine Lösung möglich, sagt sie. Nur dann.

Zwei Tage später sitzen sich Svens Mutter und Vater wieder im Gerichtssaal gegenüber, letzter Verhandlungstag. Die eine Seite hat das Gefängnis als Druckmittel, die andere den Jungen. Keiner sagt, ich verzichte auf ein Stück meines Rechtes, damit das Kind wieder Eltern bekommt. "Sie hat einen starken Charakter", sagt Elena Kapps letzter Freund im Zeugenstand. "Wenn sie etwas machen wollte, hat sie das gemacht."

Eine Familientherapeutin beschreibt Elena Kapps Standpunkt: "Ich bin die Mutter, und das Kind gehört zur Mutter." Die Zeugin erinnert sich, wie die Eltern einander das Kind abkaufen wollten: Was willst du für Sven, habe der Vater gefragt - die Mutter hätte auf den Unterhalt verzichtet. "Für mich", sagt die Therapeutin, "war das Opfer der Sven." Es ist selten, dass jemand von Sven spricht.

Elena Kapp beantwortet Fragen erst kurz vor der Urteilsverkündung, auch die ihres Ex-Mannes. Wie geht es Sven? Zum ersten Mal in den drei Gerichtstagen schaut sie ihn an, sagt: "Ich habe gehört, dass es ihm gut geht."

Ihre Anwältin plädiert auf Freispruch. Ihre Mandantin habe nicht gewusst, dass die Flucht strafbar ist. Sie argumentiert mit dem "entwürdigenden" Leben im Vater-Haus, spricht von "Leibeigenschaft" und "Herrenmenschenattitüde".

Strafrichter Robert Grain aber wertet die Flucht als "Selbstjustiz". Sie habe gewusst, dass sie Unrecht tue, "so dumm sind Sie nicht!". Sie solle doch ihre Strategie zumindest in der zweiten Instanz ändern und Sven nicht mehr verstecken, schließlich sei ihr Tun ein "Dauerdelikt": Nach Ende der Haft sei ein neuer Prozess zu erwarten. Aus den Worten des Richters spricht kein Zweifel, als er das Urteil verkündet: Zwei Jahre. Ohne Bewährung.

Als sich die Mutter im Juni von Sven in den Urlaub verabschiedete, versprach sie ihm: In zehn Tagen bin ich wieder da.

(Die Namen der Familie sind geändert)

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