Proteste wegen Ferguson:Wenn Schnäppchenjäger über Leichen steigen

Proteste wegen Ferguson: In der Galleria Mall in St. Louis liegen Demonstranten am Boden - und erinnern so daran, dass die Leiche des schwarzen Teenagers Michael Brown viereinhalb Stunden auf einer Straße in Ferguson lag.

In der Galleria Mall in St. Louis liegen Demonstranten am Boden - und erinnern so daran, dass die Leiche des schwarzen Teenagers Michael Brown viereinhalb Stunden auf einer Straße in Ferguson lag.

(Foto: AP)

Nach Thanksgiving denken Amerikaner ans Einkaufen. In St. Louis wird am "Black Friday" gegen Polizeigewalt protestiert. Drei Shopping Malls werden vorübergehend geräumt. In Ferguson selbst beginnt das Aufräumen - und eine schwarze Bäckerin wird mit Geld überschüttet.

Von Matthias Kolb, Ferguson

Es ist eine bizarre Situation, die sich im zweiten Stock der Galleria Mall in St. Louis abspielt. Auf dem Boden liegen leblose Körper, die Arme und Beine weit von sich gestreckt. Einige von ihnen halten Plakate in den Händen, auf denen "Black lives matter" oder "Keine Anklage, kein Frieden" steht. Bei diesem "Die-In" liegen die Protestierer viereinhalb Minuten still auf dem Boden. Sie erinnern daran, dass die Leiche des schwarzen Teenagers Michael Brown viereinhalb Stunden auf einer Straße in Ferguson lag - und dass die Polizei dessen Mutter daran hinderte, zur ihrem Sohn zu laufen.

Die Besucher des Einkaufszentrums bleiben überrascht stehen, beobachten die Aktion und machen Fotos oder Videos mit ihren Smartphones. Sie wollen eigentlich nach jenen Sonderangeboten schauen, mit denen Einzelhändler am "Black Friday", dem Tag nach Thanksgiving, die Kunden ködern (mehr über das Phänomen in diesem SZ.de-Artikel). Einige - meist weiße - Schnäppchenjäger haben es so eilig, dass sie über die Körper der - meist schwarzen - Protestierer hinweg steigen und manche Mütter halten ihren Kindern die Ohren zu.

Andere folgen Rufen wie "Hört mit dem Einkaufen auf und schließt euch der Bewegung an": Sie geben ihre Einkäufe zurück und schließen sich den knapp 300 Protestierern an. Viele sind noch immer entsetzt, dass die Grand Jury entschieden hat, den weißen Polizisten Darren Wilson, der die Schüsse auf Brown abgegeben hat, nicht anzuklagen. Drei Dutzend Polizisten verfolgen die Aktion, die zwei 19-jährigen Aktivisten organisiert haben. Jonathan Pulphus und Alisha Sonnier haben neue Texte zu den Melodien bekannter Weihnachtslieder geschrieben, die Polizeigewalt, Rassismus und die Meinungsmache von Fox News beklagen. Aus "Silent Nights" (stille Nacht) werden da "trampled rights", also Rechte, auf denen herumgetrampelt wird.

Je länger der Protest dauert, umso mehr Gitter vor den Geschäften in der Mall werden heruntergelassen. Schließlich ordnet die Polizei an, das Einkaufszentrum zu räumen - via Twitter verbreitet sich die Nachricht, dass Polizeiautos die Eingänge zu den Parkplätzen der Galleria Mall versperren und gepanzerte Hummer-Fahrzeuge der Nationalgarde angekommen sind.

"Wir wollen nicht, dass jemand verletzt wird", sagt der schwarze Sicherheitsmann, der die Shopper zum Gehen drängt. Da die Aktion friedlich ablief, bleibt offen, ob die Polizei wirklich eine Gefahr sah oder eher dem bunten Treiben ein Ende machen wollte. Die meisten Besucher nehmen es gelassen: Es ist nur eine "kleine Störung", meint der 40-jährige Jim, der mit seiner Familie in die Mall gekommen ist - sie werden einfach nebenan zu Macy's gehen. Er selbst ist weiß und kann nicht nachvollziehen, wieso die Proteste weitergehen: "Das Ganze ist doch jetzt juristisch aufgeklärt."

Auch Walmart-Filialen als Ziel von Aktionen

Anders denkt Jane, die sich auf ihrem Schild als "weiße Minivan-Mom" bezeichnet und von ihrer Tochter und ihrem Ehemann begleiten wird: "Amerika muss etwas ändern, der Rassismus ist noch immer da." Sie habe keine Sekunde darüber nachgedacht, stundenlang vor der Mall Schlange zu stehen: "Ich habe jahrelang im Einzelhandel gearbeitet und der Black Friday ist der Horror. Also hat die Familie beschlossen, lieber auf die Demo zu gehen."

Jonathan Pulphus und Alisha Sonnier sind mit ihrer Aktion zufrieden: "Wir wollten zeigen, dass es unmoralisch ist, nur an Rabatte zu denken, wenn es so viele Probleme in Amerika gibt." Die schwarzen Studenten sind im Großraum St. Louis aufgewachsen und haben nach dem Tod von Mike Brown eine Organisation namens "Tribe X" gegründet. Über SMS und Twitter halten sie Kontakt mit anderen Gruppen und unterstützen sich gegenseitig.

Am Vorabend hatten Aktivisten Parolen wie "Hands up, don't shoot" in Filialen von Walmart und Target gesungen. "Die Familie der Walmart-Besitzer ist die reichste in Amerika, aber sie bezahlen die niedrigsten Löhne und vergeben nur Teilzeit-Jobs", sagt DeRay McKesson, der bei vielen Protesten dabei war. Im Laufe des "Black Friday" werden zwei weitere Einkaufszentren nahe St. Louis nach ähnlichen Aktionen geräumt. Es sind vor allem junge Leute, die mit vielen kreativen Ideen den Protest aufrecht erhalten, doch bisher fehlt ihnen eine klare Organisationsstruktur. Vieles erinnert an die Occupy-Bewegung.

Große Hilfsbereitschaft und viele Spenden in Ferguson

In Ferguson selbst wird am Tag nach Thanksgiving weiter aufgeräumt. Freiwillige haben geholfen, die ausgebrannten und demolierten Geschäfte zu säubern und die Straßen gereinigt. Noch immer haben viele Besitzer ihre Fenster mit Brettern vernagelt - entweder weil sie weitere Ausschreitungen fürchten oder weil die Scheiben zu Bruch gingen. Doch überall auf der South Florissant Road werden die Holzbretter bemalt und mit Sprüchen verziert.

Die 26-jährige Darcy Edwin malt seit drei Tagen eine große Eiche in bunten Farbtönen an die Bretterfassade eines Optikers. "Ich wohne zwei Blocks weiter und habe nach der Gewalt in der Nacht von Montag auf Dienstag mit den Inhabern geredet und gefragt, wie ich helfen kann", sagt sie. Das Bild sei ein Zeichen, dass die Gesellschaft von Ferguson nicht aufgeben werde und trotz all der Wut und der Dauerbeobachtung durch die Medien stärker werden könne.

Während Darcy - gewärmt durch einen Heizstrahler - weitere Blumen malt, halten immer wieder Autofahrer an und rufen "Danke für die Kunst". "Ferguson ist ein schöner, ziemlich langweiliger Vorort", sagt Val. Er leistet seiner Schwägerin Darcy in der Kälte Gesellschaft und glaubt nicht, dass es hier schlimmer oder besser sei als im Rest von Missouri und im Mittleren Westen. Tragischerweise würden regelmäßig junge Schwarze von Polizisten erschossen, doch es sei Zufall, dass der Tod von Michael Brown so großes Aufsehen erzeugt. "Rassismus ist kein Problem von Ferguson allein, sondern eines der amerikanischen Gesellschaft. Wir werden Jahrzehnte brauchen, es zu überwinden", sagt Val. Auch er ist überzeugt, dass die community der Kleinstadt intakt genug ist, um wieder zusammenzufinden.

Viertelmillion Spenden für schwarze Bäckerin

Wie groß die Hilfsbereitschaft in der Gegend rund um Ferguson - und wohl auch im Rest der USA - ist, hat Natalie DuBose erfahren. Die alleinerziehende Mutter zweier Kinder betreibt seit Juni eine kleine Bäckerei in der South Florissant Road (mehr über ihre Geschichte beim St. Louis Post-Dispatch und bei Slate). Seit August war ihr Umsatz bereits zurückgegangen, doch die Afroamerikanerin hatte gehofft, dass die Protestierer ihren Laden im Fall von Ausschreitungen verschonen würden: "Zerstört meinen Laden nicht, ich kann sonst meine Kinder nicht ernähren." Es kam anders: In der Nacht auf Dienstag demolierten drei Teenager die Scheiben von "Natalie's Cakes and More".

Das Foto der weinenden Bäckerin, die kurz den Glauben in ihre Mitbürger verloren hatte, ging um die Welt. Nachbarn boten an, ihr Zutaten zu kaufen, abzuwaschen oder ihr Küchengeräte zu leihen. Am Mittwoch wurden zwei Aufrufe ins Internet gestellt, in denen um Spenden für Natalie DuBose gebeten wurde (hier nachzulesen). Bis zum Samstagmorgen deutscher Zeit sind bereits mehr als 250 000 Dollar zusammengekommen.

Natalie DuBose

Das Foto der weinenden Bäckerin, die kurz den Glauben in ihre Mitbürger verloren hatte, ging um die Welt.

(Foto: AP)

In der allgemeinen Sorge, die Ferguson noch immer beherrscht, gibt es also Geschichten, die Mut machen. Doch noch immer ist die Lage angespannt und fragil: In der Nacht auf Samstag kam es zu mindestens 15 Festnahmen, nachdem linksradikale Provokateure vor dem Polizeigebäude in Ferguson aufmarschierten und kommunistische Fahnen schwenkten.

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