Papst Franziskus:Wider die bürgerliche Frömmigkeit Europas

Then Cardinal Bergoglio washes and kisses the feet of patients of the Hogar de Cristo shelter for drug users, during a Holy Thursday mass in the Parque Patricios neighborhood of Buenos Aires

Papst Franziskus ist für seine Demutsgesten bekannt. Als Erzbischof von Buenos Aires wusch er Drogenabhängigen am Gründonnerstag die Füße. 

(Foto: REUTERS)

Mit dem Argentinier Franziskus hat sich die weltpolitische Balance verschoben. Seine Theologie und sein Lebensstil bieten einen Gegenentwurf zur satten, individuellen Frömmigkeit in Europa. Damit daraus Veränderung entsteht, bleibt ihm zu wünschen, dass er sein Amt ändert, bevor es ihn ändern kann.

Ein Kommentar von Matthias Drobinski

Da ist ein alter Mann auf die Loggia des Petersdoms getreten, ganz in Weiß, ohne die Insignien der päpstlichen Macht und Prachtentfaltung. Er hat demütig das Haupt geneigt und erst einmal von den Leuten auf dem Platz da unten den Segen erbeten, bevor er sie segnete. Franziskus nennt er sich, in Erinnerung an Franz von Assisi, der mit seinem Leben als reicher Sohn eines Tuchhändlers brach, um von Almosen zu leben. Jorge Mario Bergoglio, der Kardinal aus Argentinien, der in Buenos Aires Bus gefahren ist und am Gründonnerstag Drogenabhängigen die Füße gewaschen hat, ist Papst. Jetzt soll er seine Kirche und die Welt verändern, der alte Mann in Weiß.

Es gehört zu den Missverhältnissen des Medienzeitalters, dass sich die Hoffnung der Menschen zunehmend auf Einzelne richtet, auf die Heiligen des Welttheaters - ohne dass die den Lauf der Welt tatsächlich ändern könnten. Wie viele Divisionen hat der Papst? Die hämische Frage Stalins lässt sich weitertreiben: Was soll der demütige Mann in Weiß denn tun, wenn Finanzströme und Informationen um den Globus jagen, die Menschheit ihre Ressourcen frisst, Arm und Reich auseinanderdriften und der Einzelne in der anonymen Schwarmintelligenz des elektronischen Netzes verschwindet? Was soll er ändern, wenn die Mehrzahl seiner Gläubigen sich nicht einmal mehr ans Freitagsfasten hält, oder ans Verbot von Verhütungsmitteln?

Doch der Pontifex "vom Ende der Welt", wie er sich selber nennt, ändert die katholische Kirche schon jetzt - und darüber hinaus die Welt. Er hat das Verhältnis der Kontinente zueinander verschoben. Die Welt außerhalb Europas ist nicht mehr bloß der Adressat europäischen Handelns, Bewertens, Unterstützens und Kontrollierens; sondern einer von dort sitzt jetzt an der Spitze. Er zeigt in seinen ersten Handlungen, dass er mit vielen Gewohnheiten dieses alten Europas brechen möchte. Es ist ein Globalisierungsschub in der katholischen Kirche mit unbekannten Auswirkungen; es ist ein Abenteuer.

Fortführung des Zweiten Vatikanischen Konzils

Die Wahl des Argentiniers führt fort, was das Zweite Vatikanische Konzil vor 50 Jahren begonnen hat. Bis dahin hatte die katholische Kirche sich als Societas Perfecta verstanden, als Gemeinschaft, die sich selbst genügt. Die päpstliche Diplomatie sollte ihr einen abgesicherten Platz verschaffen und entsprechend verhandeln, egal ob die Gesprächspartner Juden verfolgten oder dissidente Schriftsteller. Nun aber hatten Johannes XXIII. und Paul VI. die gesamte Menschheit im Blick. Ihr Mittel aber blieb das alte: die Diplomatie, der Eintritt als Subjekt des Völkerrechts in die Staatengemeinschaft. Erst Johannes Paul II. änderte das. Er wollte dem Osten Europas Freiheit bringen, er kritisierte den Kapitalismus und den Egoismus des Westens, und in den 26 Jahren seines Pontifikats wurde die katholische Kirche zur größten Nichtregierungsorganisation der Welt.

Mit der Wahl Bergoglios ändert sich der Blick noch einmal. Johannes Paul II. war vom Ost-West-Konflikt geprägt, daher stammte zum Beispiel sein Misstrauen gegenüber der Befreiungstheologie. Der neue Papst ist geprägt von den Brüchen und Widersprüchen innerhalb des westlichen Systems. Er hat bisher als Kritiker dieses Systems den Menschen ins Gewissen geredet, gepredigt, Zeichen gesetzt, Kirchenpolitik und Politik betrieben. Seine Wahl zum Papst dient nicht unbedingt der Systemstabilisierung: Die Globalisierung hat einen global denkenden Herausforderer erhalten. Die obdachlosen Armutsflüchtlinge, die nachts rund um den Petersplatz in Rom auf Pappe schlafen, haben eine andere Bedeutung, wenn dort vor vier Stunden ein Papst der Armen gewählt worden ist.

Kirche quer zur westlichen Selbstverständlichkeit

Für die Christen in Europa kann das durchaus verstörend werden - in ihrer wohlgeordneten Bürgerlichkeit, in er sie zumeist leben. Sie spenden viel für die armen Länder, sie sind überdurchschnittlich oft sozial engagiert. Ihre Frömmigkeit aber ist zumeist auf die Bewältigung ihres Lebens ausgerichtet: Sie soll ihnen Halt und Orientierung in einer unübersichtlichen Welt geben, Gemeinschaft gegen die Vereinzelung, Begleitung durchs Leben, von der Taufe bis zur Beerdigung. Sie ist gebildet, philosophisch, differenziert und handlungsarm. Die katholische Kirche Europas und vor allem Deutschlands ist reich und wohlgeordnet, eine Kirche der Angestellten und der Bischöfe mit Oberregierungsratsgehalt.

Der alte bescheidene Mann in Weiß dürfte diese bürgerliche Kirchlichkeit infrage stellen, mehr vielleicht als alle säkularen Kirchenkritiker zusammen. Müssen nicht auch die Bischöfe Europas die Paläste verlassen, wenn der Erste unter ihnen einst als Bischof den Palast verlassen hatte? Wie wollen sie leben - wie wollen aber auch die Christen leben, die in diesem Papst ihr Vorbild sehen?

Es ist ein zutiefst religiöses Projekt, das da auf Europas Katholiken aus dem fernen Lateinamerika zukommt. Es setzt auf die Macht des zeichenhaften Andersseins, die Kraft der Transzendenz, die frei macht, gerade weil sie so anstößig ist in einer aufs Nächstliegende ausgerichteten Welt. Und vielleicht hat Papst Benedikt XVI. ihm ungewollt ein Programm gegeben, als er im September 2011 in Freiburg von der "Entweltlichung" sprach, die die Kirche immer wieder brauche. Es wäre eine Entweltlichung, die sich nicht im philosophischen Differenzdenken erschöpft. Es wäre eine Kirche, die quer zum allzu Selbstverständlichen der westlichen Welt stünde - und gerade deshalb neu glaubwürdig werden könnte.

Ändert ihn das Amt schneller, als er das Amt ändern kann?

Franziskus' Pontifikat kann scheitern. Es kann scheitern an der Macht der Bewahrung in der katholischen Kirche. Natürlich wird die Kurie in der Hand der Italiener und Europäer bleiben, und wer das Erschrecken der Kurialen angesichts der ersten Formbrüche des neuen Papstes sieht, kann ahnen, wie viel Widerstand ihn da erwartet. Es kann aber auch an den inneren Widersprüchen in der Theologie und im Weltverständnis von Jorge Mario Bergoglio scheitern: Kann er von der Liebe zu den Armen und Ausgeschlossenen reden und gleichzeitig die Liebe homosexueller Menschen zueinander als minderwertig vor Gott ansehen? Kann er von Gerechtigkeit sprechen, ohne innerkirchlich die Frauenfrage als Frage der Gerechtigkeit zu sehen? Und ändert ihn das Amt schneller, als er das Amt ändern kann?

Doch auch wer der katholischen Kirche fernsteht, sollte ihm wünschen, dass dieses Pontifikat gelingt; sollte wünschen, dass Franziskus, bei all seinen Grenzen, Kirche und Welt verändert. Da lebt einer einen anderen Stil in einer Zeit, in der Lebensstilfragen zu Lebensfragen werden. Da hält einer die Tür zur anderen Wirklichkeit offen und stört den Gang der Dinge - ein alter Mann in Weiß, der sich demütig vor den Menschen verbeugt.

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