Kriminalität:NRW droht zum Unsicherheitsland zu werden

Problemviertel Marxloh

Der Stadtteil Marxloh ist ein Brennpunkt-Viertel in Duisburg (Archivbild von Juni 2015).

(Foto: dpa)

Straßenkinder schlagen sich aus Nordafrika bis nach NRW durch, werden kriminell, aggressiv, machen ganze Stadtviertel unsicher: Zu Besuch in Düsseldorf-Oberbilk und Duisburg-Marxloh.

Von  Kristiana Ludwig und Bernd Dörries

Minzblätter schwimmen in den Gläsern, an den Tischen im Café sitzen ältere Männer und Leute in seinem Alter. Sie trinken Nanatee, zuckersüß wie in Marokko. Mohammed I. sitzt auf einem Stuhl, ohne Tischchen, ohne Tee. "Vorübergehende Aussetzung der Abschiebung", steht auf dem Zettel zwischen seinen Fingern. Seine Duldung reicht bis Mitte März. Das Haschisch reicht vielleicht bis morgen. Er hat vier Brocken in einer gelben Plastiktüte. "Wir sind kleine Fische", sagt Mohammed I.: "Die großen sind da drüben." Er zeigt auf eine Kreuzung an der Ellerstraße in Düsseldorf. Es ist das Herz des Maghreb-Viertels, wie es die Polizei hier nennt.

Schnelles Geld verdienen. Egal, wie

Die Beamten beobachten schon lange, dass Diebe oder Drogendealer wie Mohammed I. in diesen Straßenzügen ihre Straftaten planen. Bereits seit Juni 2014 soll ein Analyseprojekt die kriminellen Strukturen in dieser Gegend aufschlüsseln, im Blick sind mehr als 2200 Verdächtige, die aus ganz Nordrhein-Westfalen kommen und zum Teil aus ganz Deutschland. Viele von ihnen, das wissen die marokkanischen Geschäftsleute hier genauso wie Sozialarbeiter, sind Straßenkinder, die sich aus Nordafrika bis nach Italien oder Spanien durchgeschlagen haben. Dort bekamen sie Papiere - um nach Deutschland weiterzureisen. Doch weil sie hier kaum eine Chance auf eine Aufenthaltserlaubnis haben, ist ihr Ziel, schnelles Geld zu verdienen. Egal, wie.

So gab es auch in der Nachbarstadt Köln im vergangenen Jahr einen "rasante Entwicklung" von Straftaten, die Männer aus Algerien, Marokko und Tunesien begangen haben, sagt der Leiter der Kölner Kriminalpolizei, Norbert Wagner. Etwa 2000 Jugendliche und junge Erwachsene "ohne irgendeine soziale Bindung" seien mit mehr als 3500 Delikten aufgefallen, überwiegend Taschendiebstähle und Raubüberfälle. Gewalt- und Sexualstraftaten jedoch kaum, sagt Wagner. Die Täter seien vernetzt, sie sprächen sich ab, über soziale Medien oder am Telefon. Sie klapperten deutsche und europäische Hauptstädte ab, auf Betäubungsmitteln zögen sie nächtelang durch die Amüsierviertel, um Betrunkene zu bestehlen. In Nordrhein-Westfalen scheinen sie sich allerdings im Moment besonders wohlzufühlen. Der Kölner Polizeieinsatzleiter Michael Temme sagt, eine Lage wie in den letzten drei Jahren habe er in 40 Berufsjahren noch nicht erlebt.

Bereiche, die selbst von der Polizei als No-go-Areas beschrieben werden

Ganz zu Beginn seiner Amtszeit im Jahr 2010 hatte NRW-Innenminister Ralf Jäger (SPD) gesagt, er sehe sich nicht als einen klassischen Innenminister alter Schule, er sei keiner, der den schwarzen Sheriff spiele, der ständig härtere Strafen fordere. Er hat als Innenminister den Blitzer-Marathon erfunden. Doch vielleicht hat er die innere Sicherheit aus dem Blick verloren.

In Duisburg, Essen, Gelsenkirchen und Dortmund haben sich Bereiche entwickelt, die selbst von der Polizei als No-go-Areas beschrieben werden. Junge Zuwanderer begehen massenweise Straftaten. Bereits im Oktober 2014 waren "allein reisende Nordafrikaner" Thema im Innenausschuss des Landtags - als kleine, aber aggressive "Problemgruppe" unter den Flüchtlingen. Passiert ist seitdem wenig. Die Polizei habe nicht genug Leute, um diesen Kriminellen beizukommen, heißt es von den Gewerkschaften. Die Justiz im Bundesland sei zu träge, die Strafen zeigten keine Wirkung. Die jungen Nordafrikaner gelten als Wiederholungstäter. Sie fielen "immer wieder durch eine hohe Gewaltbereitschaft" gegen Polizeibeamte auf, stand schon im vergangenen Jahr in einer Mitarbeiterzeitung.

Reichen 1,5 Prozent mehr Polizisten?

Nordrhein-Westfalen droht, zum Unsicherheitsland zu werden. Ein gutes Jahr vor der Landtagswahl eine Entwicklung, die die Regierung von Hannelore Kraft die Wiederwahl kosten könnte. Als sie im Landtag nach ihrer Reaktion auf die Überfälle in der Silvesternacht befragt wurde, sagte sie, sie wolle die Zahl der Polizeibeamten um 500 erhöhen - also um etwa 1,3 Prozent. Weil die Ausbildung neuer Polizisten drei Jahre dauere, werde die Landesregierung ausscheidende Beamte bitten, freiwillig länger im Dienst zu bleiben. Außerdem werde man anderen Bundesländern nicht mehr mit zusätzlichen Einsatzhundertschaften aushelfen. Aber wird das reichen?

Der Besitzer des Orientmarkts, der in der Düsseldorfer Ellerstraße bodenlange Kleider und Rollkoffer verkauft, will seinen Namen nicht nennen. Er hat Angst, die Polizei zu rufen, wenn die Jungs Drogen in den Grünstreifen verstecken. Wenn sie die Ehefrauen anpöbeln, die früher am Nachmittag in seinen Laden kamen. Er zieht den Zeigefinger an seinem Hals entlang. "Ich habe Familie", sagt er. Wenn es nach den Geschäftsleuten im Maghreb-Viertel ginge, gäbe es hier mehr Streifenwagen. Das sei "nicht realistisch", entgegnet ein Düsseldorfer Polizeisprecher. In der Gegend sei es nicht gefährlicher als anderswo - das Publikum sei nur krimineller.

Blutergüsse und ausgeschlagene Zähne - Polizisten sehen sich brutalen Angriffen ausgesetzt

Die Nachbarn haben nun begonnen, ständig die 110 zu wählen. Der Besitzer des Mamounia-Cafés hat eine Glasscheibe mit Spanplatten und Heißklebepistole geflickt. "Hausverbot" hätten die jungen Männer bekommen - und das sei ihre Reaktion darauf. Einer der Nachbarn schreibt sich Nummernschilder auf, von Mietwagen, die hier um die Mittagszeit Dealer absetzen, wie er sagt. Der Mietwagen kommt aus Duisburg-Marxloh. Man könnte ihn ein Brennpunkt-Shuttle nennen.

sz

SZ-Grafik; Quelle: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge

"Straftaten gehören zur Freizeitbeschäftigung"

Die Autovermietung liegt in einer Straße, die wie so viele aussieht im Duisburger Norden. Sechzigerjahre-Häuser, von denen der Putz bröckelt. Die Weseler Straße ein paar Meter weiter zählt die Polizei zu den unsichersten in ganz Nordrhein-Westfalen. Wenn sie die betreten, dann nur mit Verstärkung. Einzelstreifen sind längst eingestellt worden. Einfache Verkehrskontrollen enden in Massenaufläufen, in roher Gewalt gegen Polizisten. "Die Erfahrung zeigt, dass insbesondere die libanesischen Großfamilien in der Lage sind, durch einen Telefonanruf mehrere Hundert Personen zu mobilisieren", heißt es in einem Lagebericht der Duisburger Polizei. In einem anderen Viertel wird die Lage so beschrieben: "Die Straße wird faktisch als eigenes Hoheitsgebiet angesehen. Außenstehende werden zusammengeschlagen, ausgeraubt und drangsaliert. Straftaten gehören zur Freizeitbeschäftigung."

Vor etwa acht Jahren habe die Polizei beobachtet, dass im Duisburger Norden etwas kippt

In Düsseldorf und Köln sind es vor allem Nordafrikaner, die die Polizei beschäftigen. Im Ruhrgebiet libanesische Familien, Kurden und auch Roma. Es gibt die Problemviertel in Essen, Dortmund und in Gelsenkirchen. Im Duisburger Norden werden Polizisten in einigen Wochen den Kinder-Karneval bewachen müssen. "Einige Kollegen haben Angst", sagt Jürgen Kahl. Er ist als Personalrat für die Wache im Duisburger Norden zuständig. Vor etwa acht Jahren, erzählt Kahl, habe die Polizei beobachtet, dass im Duisburger Norden etwas kippt, dass einfache Einsätze zu Massenaufläufen führen, dass die Beamten "einem Mob gegenüberstehen, der keinerlei Respekt hat."

In Gelsenkirchen beschreibt es ein interner Polizeibericht so: "Beamte werden ohne Anlass von einer größeren Menschenmenge (übelst und vulgär) beleidigt, bedrängt, bedroht, angegriffen und immer wieder rassistischen Vorwürfen ausgesetzt." Einmal wurde eine Beamtin mit einer Dachlatte angegriffen, die mit Nägeln gespickt war. Es gab Versuche der Gefangenenbefreiungen. Es gab "Zahnverlust, Finger- und Handbrücke, Entstellungen durch Hämatome." Es sind wieder libanesische Großfamilien, die bei geringstem Anlass zusammenkommen.

Großfamilien nennen die Einsatzkräfte "die Strengen" und "die Unentspannten"

Mittlerweile bekommen Gelsenkirchen und Duisburg Verstärkung durch eine Polizei-Hundertschaft. Junge Beamte, die normalerweise in Stadien eingesetzt sind oder bei Demonstrationen, werden in die Nordstädte gefahren. Seither sei die Lage besser, sagt Polizist Kahl. "Es werden mehr Anzeigen aufgenommen, es gibt wieder etwas mehr Respekt." Die Großfamilien nennen die Einsatzkräfte "die Strengen" und "die Unentspannten". Ende des Jahres läuft der Einsatz der Unentspannten aus.

Im Maghreb-Viertel in Düsseldorf ist es dunkel geworden. In einem Hauseingang treten die Jungs von einem Fuß auf den anderen, sie laufen auf die andere Straßenseite, telefonieren, kommen zurück. Einer, mit roter Wollmütze, vielleicht gerade 18, zählt auf: zwei Mal Gefängnis, ein Mal Jugendarrest. Er kommt immer noch jeden Tag her, sagt er, Leute treffen. "Die leben schon in Marokko auf der Straße", sagt ein Straßensozialarbeiter aus dem Viertel. Hier in Deutschland wüssten alle von ihnen, dass sie nur ein paar Jahre haben, bevor sie gehen müssen: "Die sind längst keine Kinder mehr - und ziehen andere Minderjährige mit rein." Härtere Strafen würden vielleicht helfen, sagt er, schnellere Gerichtsverfahren. Aber vor allem Anreize: ein Grund, für den es sich lohnt, zur Schule zu gehen.

Schwimmbadverbot

Nach Beschwerden über sexuelle Belästigungen dürfen in Bornheim bei Bonn männliche Flüchtlinge vorübergehend nicht mehr in das städtische Hallenbad. Mit Info-Veranstaltungen in den Unterkünften würden die Flüchtlinge jetzt darüber aufgeklärt, dass sexuelle Belästigung auf keinen Fall akzeptiert werde, sagte Sozialdezernent Markus Schnapka. Einige der Flüchtlinge hätten Verständnis gezeigt. Andere hätten sich diskriminiert gefühlt und erklärt, man könne nicht alle männlichen Flüchtlinge mit einem Schwimmverbot bestrafen, wenn nur einige wenige sich falsch verhalten hätten. Auch der Flüchtlingsrat NRW kritisierte das Verbot. EPD/DPA

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