Fünf Jahre nach Amoklauf in Winnenden:Erinnern, Vergessen, Vergeben

Ein Mahnmal im Stadtgarten, ein ehemaliges Klassenzimmer als Andachtsraum, eine Lichterkette und Rosen für die Opfer: Fünf Jahre nach dem Amoklauf an der Albertville-Realschule gibt die Stadt Winnenden ihr Bestes, um der Toten würdig zu gedenken. Wäre da nicht die leidige Sache mit dem Geld.

Von Max Hägler, Winnenden

Gerade eben hat Juri Minasenko noch in die Mikrofone gesagt, dass seit dem Amoklauf hier in Winnenden "bereits fünf Jahre vergangen" seien. Hat der Stadt gedankt für die Unterstützung bei der Errichtung der Gedenkstätte im Stadtgarten, die gerade fertiggeschweißt wird für die offizielle Trauerfeier an diesem Dienstag. Jetzt steht er etwas abseits des tonnenschweren Mahnmals. Streift den Pulli zurück. Eine kleine, schlichte, schwarze Uhr hat er angelegt. "Es ist die von meiner Tochter." Viktorija Minasenko. 16 Jahre alt war sie, als sie starb. Sie war einer der 15 Menschen, die Tim K. am Vormittag des 11. März 2009 erschossen hat, bevor er sich selbst das Leben nahm. "Die Zeit läuft anders für uns seitdem", sagt Viktorijas Vater. Wieso also das Wort "bereits"? Weil sich andere vielleicht nicht erinnern wollten, sagt er. Was auch ihr gutes Recht sei. Minasenko ist Psychiater, einigermaßen rational. Er will Rücksicht nehmen auf die Befindlichkeiten in der Stadt.

Tatsächlich gibt es viele Diskussionen über Erinnern, Vergessen, Vergeben in diesem Ort 20 Kilometer nördlich von Stuttgart. Aber es scheint, als ob die Zurückhaltung von Minasenko gar nicht notwendig wäre: Das Leben von vielen der 27 000 Menschen in Winnenden verläuft seit dem 11. März 2009 in einem anderen Takt.

"Die Tat ist für unsere Stadt eine der wichtigsten Angelegenheiten, und wenn jemand sagt: Lass gut sein, geht das an der Sache vorbei", sagt Hartmut Holzwarth, der Oberbürgermeister, der zur kleinen Vorbesichtigung des Denkmals geladen hat. "Solange Menschen da sind, die das erlebt haben, müssen wir uns daran erinnern." Holzwarths Sohn, ein kleiner, blonder Steppke, zupft den Papa am Sakko: "Schau mal!" - Zwei Kinder radeln vorbei, Spielkameraden. "Ihre Schwester ist auch gestorben vor fünf Jahren", sagt der Bürgermeister. Sein Bub, leise: "Die Nicole."

Schwung gen Himmel

Das Denkmal: Ein riesiger Stahlring, innen sind die Namen der Opfer angebracht, ein Durchbruch symbolisiert die Tragödie - und ein Schwung in den Himmel das Aufbäumen, das Nicht-Aufgeben der Überlebenden und Angehörigen.

Der erste Tatort des Amoklaufs ist von hier aus zu sehen: die Albertville-Realschule, wo der 17-jährige Tim K. einst Schüler war. Angebote zur Erinnerung auch hier: Am Eingang, hinter einem Mäuerchen, sind Steinplatten mit den Namen der Opfer eingelassen. Nur wer nahekommt, sieht sie. Wer will, kann wegbleiben. Und wer will, Schülern oder Lehrer, kann in den ersten Stock gehen, in das Klasszimmer der damaligen 10d, das einer der "Taträume" war und jetzt Gedenkstätte ist.

15 Pulte sind dort aufgestellt, auf jedem eine Kerze und ein Foto. Jenes von Viktorija Minasenko zeigt ein blondes Mädchen, das frech in die Kamera lacht. An der Wand ein Bild der Golden-Gate-Bridge und Zitate aus dem Buch "Der Kleine Prinz". Die überlebenden Schüler wollten nichts verändern. Doch dort wo früher die Tafel hing, steht inzwischen an die Wand geschrieben: "11.3.2009. 9:33 Uhr - " Immer wieder fragen Schüler, wieso denn nichts hinter dem Gedankenstrich stehe. "Genau dann sind wir schon im Nachdenken", sagt der Schulleiter Sven Kubick.

Notfallschalter und ein Raufclub an der Albertville-Schule

Er trat sein Amt nach der Tat an, weil seine Vorgängerin nicht mehr konnte. Und er hat gelernt, dass er langsamer vorgehen muss als geplant, dass hier noch viel aufzuarbeiten. Es gibt nun einen "Raufclub", in dem sich Schüler mit Schaumstoffstöcken fetzen können. Delegationen aus der ganzen Welt besuchen ihn. Zum Schuljahresbeginn kommen Sozialarbeiter in die Klassen. Und dann sind da die Notfallschalter in den Zimmerecken. Gibt es Alarm, können die Türen per Knopfdruck geschlossen werden und alle müssen sich in die "sicheren Bereiche" stellen. Dort, wo keine Kugeln hinfliegen können, falls jemand wieder durch die Tür schießen sollte. Jedes Jahr wird das nun geübt. Acht Millionen Euro haben die Umbauten gekostet.

Wie mit den finanziellen Fragen umgegangen wurde, sei der unwürdigste Aspekt in der Aufarbeitung des Amoklaufs, sagt Oberbürgermeister Holzwarth. Erst in diesen Wochen erhalten die Angehörigen der Opfer und die Überlebenden Schadenersatz von der Haftpflichtversicherung von Tims Vater. Ein Strafgericht hat ihn wegen fahrlässiger Tötung zu einem Jahr und sechs Monaten auf Bewährung verurteilt: Der Sportschütze hatte die Waffe, eine Beretta, und die Munition nicht weggeschlossen - und damit dem Sohn die Tat erleichtert. Zumindest einen Teil der Sachschäden will die Stadt erstattet bekommen. Die Allianz-Versicherung wäre bereit, einige Hunderttausend Euro freiwillig zu zahlen. Der Vater - Eigentümer einer Verpackungsfirma und mittlerweile mit Tochter und Frau unter neuer Identität weggezogen - sollte 500 000 Euro beisteuern. "Dann wäre alles erledigt gewesen", sagt Holzwarth. Doch der Mann wollte nicht; er kommuniziert nur über seine Anwälte.

Jetzt klagt die Stadt gegen ihn. Der Vater seinerseits verklagt die Psychiatrie, bei der sein Sohn wegen Depressionen in Behandlung war. "So kalt und distanziert, wie er mit dieser Sache umgeht, kann ich mir ein wenig vorstellen, wie schwierig es für seinen Sohn war mit ihm", sagt der Bürgermeister. Aber: Aufgeben will er ihn nicht. Es wäre schön, sagt Holzwarth, wenn der Vater auch einmal Anteil nehmen würde.

Jeder war indirekt betroffen

Wobei das so einfach wohl nicht wäre. "Wenn er bei uns einfach so dazukäme, da würden manche vielleicht immer noch ausrasten vor Wut", sagt Adrian König. Der Gymnasiast und Jugendgemeinderat hat sich mit seiner jungen Ratskollegin Stella Holzäpfel in einem Café getroffen, um über das Erinnern der Jugend zu sprechen: Eine Lichterkette veranstalten sie am Dienstagabend. Auch ihr Leben hat sich verändert. Überall, wo sie nun zu erkennen geben, dass sie aus Winnenden kommen, werden sie auf den Amoklauf angesprochen. Das nervt. Und doch: Wer als Jugendlicher in Winnenden das Wort "Amok" so dahersagt, der wird von den anderen schief angeschaut. Aufmerksamer sind die Menschen hier geworden. Denn jeder hat Bekannte, die einem Opfer nahestanden.

"Wir wollen uns erinnern, wieder zusammenstehen, umarmen für einen Abend", sagt die Schülerin Holzäpfel. 15 Rosen wird die Jugend niederlegen. Diesmal, nach fünf Jahren, diskutiert der Jugendgemeinderat auch, ob eine sechzehnte dazukommen soll. Eine für Tim K.

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