Flüchtlingsdrama im Mittelmeer:"Ich war allein"

55 Flüchtlinge sind vor wenigen Tagen nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks bei einem Bootsunglück auf dem Mittelmeer verdurstet oder ertrunken. Nun spricht der einzige Überlebende über seine Reise, die ihn von Eritrea nach Europa bringen sollte.

Friederike Hunke

Die Meldungen sind beinahe alltäglich geworden. Es war den meisten Zeitungen vor wenigen Tagen nur eine kurze Meldung wert, dass 55 Flüchtlinge auf dem Weg von Libyen nach Italien im Mittelmeer ertranken oder verdursteten. Aber dieses Mal gibt es einen Überlebenden.

Abbas Saton stieg nach eigenen Angaben Ende Juni mit 55 anderen Menschen in Libyen in ein großes Schlauchboot Richtung Italien, wie er dem UN-Flüchtlingshilfswerk berichtete. Er war der Einzige, der wieder lebend an Land kam - und damit der einzige Augenzeuge.

Tunesische Fischer entdeckten ihn, wie er sich auf hoher See verzweifelt an einen Kanister klammerte und übergaben den halb verdursteten Mann an die Küstenwache des Landes.

Der Italiener Lorenzo Pezzani traf Saton im Krankenhaus in Zarzis, einer Hafenstadt im Süden Tunesiens, und führte ein Videointerview mit dem Flüchtling. Unterstützt wurde er von Kameramann Charles Heller und der Hilfsorganisation Boats4People, die sich für Mittelmeerflüchtlinge einsetzt.

"Die Menschen weinten"

Das von Pezzani veröffentlichte Video, das inzwischen nicht mehr zugänglich ist, zeigt einen jungen Mann in blauer Krankenhauskleidung in einem kargen Raum. Mit ernstem Blick erzählt Saton, dass die Flüchtlinge aus Somalia, Eritrea und Sudan etwa 26 Stunden lang in dem Schlauchboot unterwegs gewesen waren und schon fast die italienische Küste erreicht hatten, als der Wind sie wieder aufs Meer hinaustrieb.

Irgendwann ging der Sprit des Motors aus. Berichten zufolge soll das Boot fast zwei Wochen lang auf dem offenen Meer getrieben haben. Während dieser Zeit, so hatte er seinen Rettern erzählt, seien bereits zahlreiche Menschen verdurstet. Im Video spricht er darüber nicht.

Eines Abends begann das Boot auch noch, Luft zu verlieren. "Das ging die ganze Nacht, die Menschen weinten", sagte Saton dem Reporter. Schließlich kenterte das Boot in den Wellen. Er selbst habe versucht, zu schwimmen, und sich dann am Boot festgehalten. Die anderen schafften es nicht, weil das Boot keine Luft mehr hatte und nicht richtig trug. Sie ertranken oder verdursteten nach einiger Zeit, berichtet der einzige Überlebende. "Ich war allein."

Saton erinnert sich nicht, was er dann gemacht habe. Vielleicht will er sich auch nicht erinnern - seine beiden älteren Brüder und seine Schwester sind seinen Angaben zufolge unter den Toten. "Ich weiß nur, dass ich 14 oder 15 Tage auf dem Meer war", erzählt er. Mehrmals habe er ein Boot gesehen, aber vergeblich versucht, die Besatzung auf sich aufmerksam zu machen.

Dass ihn 15 Tage lang kein Schiff bemerkt habe, sei schwer zu glauben, schreibt die italienische Tageszeitung Il Manifesto laut Frankfurter Rundschau. Demnach herrsche offenbar die Ansicht vor, "wer Ausländern in Schwierigkeiten hilft, wird Probleme haben".

Flucht vor einer der schlimmsten Militärdiktaturen

Warum stieg Saton überhaupt in das Schlauchboot? Im Interview erzählt der gebürtige Eritreer, dass er aus seiner Heimat nach Libyen floh, als dieses noch unter der Herrschaft Gaddafis stand. Die Organisation Freedom House bezeichnet die Militärdiktatur in Eritrea als "Schlimmste der Schlimmsten".

Die Situation in Libyen ist allerdings kaum besser, und so ist Satons Geschichte die einer ewigen Flucht. Bevor im Februar 2011 der Bürgerkrieg ausbrach, wohnte der Eritreer in Bengasi. Als die libysche Hafenstadt zur Rebellenhochburg wurde und unter Beschuss geriet, zog er in die Hauptstadt Tripolis. Mit dem Krieg verschärfte sich die finanzielle Situation zunehmend. Als sein älterer Bruder beschloss, in Europa sein Glück zu versuchen, ging Saton mit - und fand beinahe den Tod.

Sein Schicksal ist keine Seltenheit. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) schätzt, dass dieses Jahr bereits knapp 200 Menschen bei dem Versuch ums Leben gekommen sind, per Boot nach Europa zu gelangen. 2011 gab es 1500 Tote.

Bei allen Zahlen handelt es sich um Schätzungen, da nicht klar ist, wie viele Menschen wirklich im Mittelmeer starben. Hätte Saton nicht überlebt, wäre der Vorfall niemals überliefert worden. Umgekehrt kann die Geschichte des einzigen Augenzeugen wohl auch niemals verifiziert werden.

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