Erdbeben in Chile:Trümmer, Schreie, Verzweiflung

Mehr als 700 Tote, Tausende Verletzte und Innenstädte, die in Sekunden zerstört wurden: Seismologen sprechen von einem "Mega-Erdbeben" in Chile.

Javier Caceres

Am Tag danach konnten Chiles Fernsehzuschauer die Tragödie noch einmal nachempfinden, den Nachtsicht-Kameras einer Reality-Soap sei dank. "Pelotón" nennt sie sich; um Ruhm zu erlangen, lassen sich junge Männer drillen wie Rekruten beim Militär.

Tag und Nacht wird ihr Leben gefilmt, und so war dann auch zu sehen, wie am Samstag um 03.34 Uhr einer der Soap-Teilnehmer seinen kahlgeschorenen Kopf plötzlich vom Kissen erhebt und sekundenlang verharrt, um dem Klirren und Grummeln zu lauschen, das die Stille der Nacht erfüllt. "Chuuuta", brummt er, was so viel heißt wie "verdammt" und bloß vulgärer ist. Viel vulgärer.

Dann stürzt er aus dem Saal, und als die Regie wieder das Bett fixiert, ist zu sehen, wie die Kamera tanzt. So ewig und wild, dass einem vom bloßen Zuschauen schwindelig wird wie bei schwerstem Seegang bei Kap Horn. Doch Kap Horn ist Meer - und nicht, wie hier, ein Flecken Erde, das verrückt spielt. Und das nur allzu oft.

An Erdbeben gewöhnt

Kaum ein Land der Welt ist an Erdbeben so gewöhnt wie Chile; Mercalli und Richter sind Namen, die jeder Chilene aufsaugt wie Muttermilch und nicht vergisst, bis er längst auf Rotwein oder Pisco-Schnaps umgestiegen ist.

Die fünf größten Beben, die Chile in den letzten 110 Jahren erlebt hat, waren jeweils intensiver als jenes, das im Januar Haiti verwüstete. Das Beben vom Samstag war nicht einmal das größte der chilenischen Geschichte. 1960 schwankte die Erde im südchilenischen Valdivia so stark, dass die Seismographen ausrasteten. Im Wortsinn. Mit 9,5 gilt es als das schwerste Beben der Geschichte überhaupt.

Das Beben vom Samstag hatte eine Stärke von 8,8. Das Epizentrum lag nahe Cauquenes, einer 40.000-Einwohner-Stadt, etwa 400 Kilometer südlich von Chiles Hauptstadt Santiago - zu spüren war es freilich auf 1000 Kilometer.

"Wir sprechen von einem Mega-Erdbeben", sagte Sergio Barrientos, einer der führenden chilenischen Seismologen, im Fernsehen, und zog erschaudernde Vergleiche. So sei der Abschnitt der Verwerfung, an dem sich in Haiti die tektonische Spannung entlud, 30 bis 40 Kilometer lang gewesen - in Chile wackelte es auf 300 Kilometern.

In Haiti verschoben sich die betroffenen Plattenränder um etwa zwei Meter gegeneinander. In Chile waren es stellenweise bis zu acht Meter gewesen. Entsprechend waren Dutzende Nachbeben zu spüren. So gesehen ist kaum zu glauben, das die Zahl der Toten sich in Dimensionen bewegt, die man rational fassen kann.

Am Sonntag sprachen die Behörden von mehr als 700 Toten und Tausenden Verletzten. Die Schäden sind enorm: Im Süden sind ganze Innenstädte dem Erdboden gleichgemacht worden, die Zeitung El Mercurio berichtete von anderthalb Millionen beschädigten Wohnungen, das ist ein Vielfaches der Zerstörungen, die das Beben von 1985 verursachte. Es hatte die Stärke 7,7.

Vom 15. Stock in den Keller

Am schwersten sind Regionen an den Flüssen Maule und Biobío betroffen, in Städten wie Curicó oder Talca blieb kein Straßenzug frei von Trümmern, Schreien, Verzweiflung. In Concepción stürzte ein gerade erst eingeweihtes, 15 Stockwerke großes Wohnhaus in sich zusammen; ein Mann, der im achten Stock lebte, sagte, er habe sich im Keller wiedergefunden.

"Das Zentrum ist eine Ruine, der Hafen liegt in Trümmern", sagte Gastón Saavedra, Bürgermeister von Talacahuano. Die südchilenische Küstenstadt wurde genauso von einer Monsterwelle erfasst wie Iloca und Duao, die in den Sommermonaten je 20000 Menschen beherbergen. In Iloca schleiften die Wassermengen das Riesenrad eines Erlebnisparks 200 Meter fort.

Ein Zirkuskäfig blieb intakt, am Sonntag tapsten Löwen nervös in riesigen Pfützen umher. Die meisten Bewohner hatten sich auf Anhöhen gerettet, sie fürchten, dort auf Tage hinaus campen zu müssen. Ohne Wasser, ohne Strom, ohne Nahrung für sich und ihre Kinder, ohne Kleidung. Und die Nächte in Chile sind selbst im jetzt herrschenden Spätsommer bitter kalt. In verschiedenen Städten kam es zu Plünderungen.

"Ich dachte, die Erde verschlingt mich"

Auch die Infrastruktur war betroffen. Noch am Sonntag waren die Telefonnetze überlastet, die Stromversorgung immerhin zu 80 Prozent wiederhergestellt. Die Nord-Südautobahn, in Ermangelung von Zugverbindungen so etwas wie die Wirbelsäule des Landes, war an mehren Stellen zerbrochen. Fahrer berichten, die Autobahnen hätten sich gewellt wie Papier. Brücken brachen zusammen, der Asphalt riss auf, ganze Straßenteile sackten weg. "Ich dachte, die Erde werde mich verschlingen", sagte ein Mann.

In der Fünf-Millionen-Metropole Santiago fragten sich noch immer Menschen, wie sie es geschafft hatten, zehn, zwanzig Stockwerke und mehr hinunterzulaufen, nachdem sie vom Beben zu Boden geworfen worden waren. Doch nicht nur ältere, baufällige Häuser der Altstadt fielen zusammen: auch viele neue Gebäude stürzten ein. Chile wurde zu Zeiten der Diktatur Augusto Pinochet zu einem der liberalsten Länder der Welt - und auch die Bauvorschriften wurden gelockert.

Patricio Gross, Vorsitzender des chilenischen Architektenverbandes, klagte in der Zeitung La Tercera über unzureichenden Überprüfungen von Bauprojekten, "und das liegt daran, dass die Gesetze liberalisiert worden sind. Was früher der Staat überwachte, wird heute von privaten Anstalten übernommen."

Selbst ein Prestigeobjekt wie der Flughafen von Santiago wurde in Mitleidenschaft gezogen. Zwar blieben die Pisten intakt; in der Sekunde, da die Erde zu beben begann, konnte sogar noch eine Maschine landen. Ein abflugbereiter panamaischer Jet hingegen musste notevakuiert werden: Der Finger hatte sich in die Maschine gebohrt.

Womöglich schon am Montag soll der Flughafen wieder geöffnet werden; klar ist, dass die Erde sich dann noch immer bewegen wird.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: