Entführte Kinder aus Niedersachsen:Im Namen des Glaubens

Vier Monate waren Jonas, Benjamin, Miriam und Lisa verschwunden. Der eigene Vater hatte die vier Kinder aus Niedersachsen entführt - jetzt wurden sie in Ägypten aufgespürt. Der spektakuläre Fall ist die Geschichte eines Mannes, dessen Glaube sich radikalisierte - und seine Familie ins Unglück stürzte. Eine Spurensuche.

Thomas Körbel und Frederik Obermaier

136 Tage musste Katja Hüls um das Leben von Jonas, Benjamin, Miriam und Lisa bangen. Der eigene Vater hatte sie aus dem niedersächsischen Hermannsburg verschleppt, bis er mit ihnen am Mittwoch in Ägypten aufgespürt wurde. Die vier Kinder im Alter von vier bis neun Jahren sind mittlerweile wieder zurück in Deutschland. Nach ersten Angaben von Polizei und Staatsanwaltschaft geht es ihnen gut.

Kinderentführung

Die Chronologie der Entführung: Klicken Sie in die Grafik für eine vergrößerte Darstellung.

(Foto: SZ-Graphik)

Die Mutter zeigte sich über den Ausgang des Entführungsdramas erleichtert: "Ich bin überglücklich und unendlich dankbar, dass meine Kinder wieder bei mir sind", ließ sie mitteilen. Axel Hüls wurde festgenommen und sollte noch am Donnerstag dem Haftrichter vorgeführt werden.

Christliche Radikalisierung

Der Glaube des Vaters hat die Kinder in die dramatische Lage gebracht, vermutet sein Umfeld. Bereits 2005, Jonas und Benjamin waren gerade ein und zwei Jahre alt, tritt Axel Hüls aus der Kirche aus. Die Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche, von Kritikern ohnehin schon als konservativ angesehen, sei dem gelernten Krankenpfleger plötzlich zu liberal gewesen, wie sich Pastor Hans-Heinrich Heine von der Großen Kreuzgemeinde in Hermannsburg erinnert.

Seine Töchter Miriam und Lisa lässt Hüls demnach gar nicht mehr taufen. Seiner Frau verbietet er, in den Sonntagsgottesdienst zu gehen. Auch Auto fahren darf sie bald nicht mehr. Hüls habe gern aus dem Brief des Apostels Paulus an die Epheser zitiert, sagt Pastor Heine: "Die Weiber seien untertan ihren Männern als dem Herrn."

Ehemalige Freunde beschreiben ihn als "sehr dominanten Charakter". Vor zwei Jahren trennt sich seine Frau von ihm. Ein Gericht spricht ihr später das Sorgerecht zu. Die richterliche Entscheidung widerspricht Hüls' "radikalem Frauenbild". Darin, glaubt Pastor Heine, könnte der Grund liegen, warum er schließlich seine Kinder entführt. "Er hat als Mann allein die Entscheidung getroffen, wie die Kinder zu leben haben."

Am Ostermontag 2011 klingelt Hüls an einem schlichten Reihenhaus am Ortsrand von Hermannsburg. Seit sich seine Frau Katja von ihm getrennt hat, lebt die Altenpflegerin hier mit ihren Kindern. Miriam und Lisa sitzen oft auf der roten Schaukel im Garten hinter dem Haus, Jonas und Benjamin kicken auf das graue Fußballtor. Heute sollen die vier mit ihrem Vater eine Radtour machen. Katja winkt noch kurz, dann sind die Kinder fort.

Um halb zwei will die Mutter sie in der Wohnung ihres Ex-Mannes abholen, so hat sie es mit ihm ausgemacht. Als Katja Hüls in der Harmsstraße ankommt, sind er und die Kinder aber nicht da. "Ich habe schon nach einer halben Stunde gedacht, er ist weg mit den Kindern", erzählt sie später bei Stern TV. Dass Axel Hüls die Pässe, Geburtsurkunden und Sparbücher der Kinder mitgenommen hat, bemerkt sie erst später. Sie ruft die Polizei.

Der Vater und die vier Kinder sind da schon nicht mehr in Deutschland: Sie waren um 12:30 Uhr mit einer Condor-Maschine vom Flughafen Hannover abgehoben. Ziel ist Ägypten. Flug DE1852 landet um 16:45 Uhr Ortszeit auf dem Internationalen Flughafen von Hurghada, dem größten Touristenort am Roten Meer. Jeden Tag planschen hier Hunderte Deutsche mit ihren Kindern am weißen Sandstrand, übernachten in einem der Dutzenden Hotels. Hier fällt Hüls mit seinen Kindern nicht auf.

Zu den wenigen Sehenswürdigkeiten gehören die koptische Kirche in der Sulaiman-Mazhar-Straße sowie zwei christliche Klöster etwas außerhalb, in der Wüste. Eine deutsche Lokalzeitung schreibt später, irgendwo hier habe Axel Hüls Kontakt mit christlichen Fundamentalisten aufgenommen. Das Geld für die Reise habe er von den Konten der Kinder abgehoben.

Die Töchter wirken zufrieden - aber eingeschüchtert

Seit dem 27. April wird Hüls mit internationalem Haftbefehl gesucht - wegen "Entziehung Minderjähriger in das Ausland" steht über seinem Fahndungsfoto, darunter sein voller Name. Den ersten Tipp bekommt die Polizei erst zwei Wochen später: Eine Deutsche, die mit dem Auto durch Afrika reist, hat den 37-Jährigen auf einer Fähre vom ägyptischen Assuan in den Sudan getroffen.

In Wadi Halfa, einer 10.000-Einwohner-Stadt in Nordsudan, legt das Schiff an, Hüls geht von Bord. Im Hotel macht die deutsche Touristin ein Foto seiner Töchter: Lisa trägt darauf ein kariertes Kleidchen, Miriam eine kurze Hose mit Blümchenmuster, im Hintergrund ist eine gelb getünchte Wand zu sehen, der Putz bröckelt. Sehr zufrieden hätten die beiden gewirkt, sagt die Frau später, aber auch eingeschüchtert. "Man hatte den Eindruck, der Vater hätte ihnen verboten, mit Fremden zu sprechen."

Ein radikaler Christ in einem muslimischen Land

Viel gibt es in Wadi Halfa nicht zu sehen. Flache Lehmhäuser, eine türkisfarbene Moschee, viel Staub. Bis heute rätselt die Polizei, was Hüls hier wollte - als radikaler Christ in einem mehrheitlich muslimischen Land. Im Hotel erzählt er, er wolle mit dem Bus nach Karthum fahren, auch Tickets soll er schon gekauft haben. Ob Hüls wirklich aufgebrochen ist, bleibt jedoch unklar. 1000 Kilometer wären es bis in die sudanesische Hauptstadt, mit schrottreifen Bussen über holprige Pisten, bei über 40 Grad durch den unwirtlichen Wüstenstaat.

Am 23. Juni, acht Wochen nach der Entführung, fliegt Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) nach Khartum. Der Besuch ist schon seit Monaten geplant. Mit seinem sudanesischen Amtskollegen Ali Karti will er über die Unabhängigkeit des Südsudan sprechen. Jetzt ist auch der Fall Hüls ein Thema. Der Entführer könnte sich nur wenige hundert Meter entfernt in einem der Hotels unten am Nil versteckt halten. Sudans Außenminister Karti ist gut vorbereitet. Gesprächsteilnehmer berichten später, der graubärtige Politiker habe eine Mappe mit Informationen vor sich liegen gehabt.

Westerwelle tritt später in einem UN-Camp in Darfur vor die mitgereisten Journalisten. Es gebe Erkenntnisse, dass Axel Hüls am 19. Mai wieder zurück nach Ägypten gereist sei, erklärt der Außenminister. Hüls sei mit der Fähre wieder nach Assuan gefahren. Im Hafen, zwischen den weißen Segeln der traditionellen Feluken, verliert sich jedoch seine Spur. Auch ein Fahndungsaufruf in der ZDF-Sendung Aktenzeichen XY ... ungelöst bringt die Ermittler nicht weiter.

Daheim beten die Gläubigen für die Kinder

Verzweifelt wendet sich Katja Hüls an die Presse. Dem RTL-Format Stern TV gibt sie das einzige Interview. Für ihren Ex-Mann sei die Welt eine einzige Sünde gewesen, erzählt sie. "Und aus dieser sündigen Welt wollte er die Kinder rausholen."

Daheim, in Hermannsburg, beten die Gläubigen jeden Sonntag in der Kreuzkirche für die Kinder. Auf der Gemeinde-Homepage bedankt sich Katja Hüls für das Mitgefühl. Auch Axel Hüls' Eltern haben ihren Namen daruntergesetzt. Ihr Sohn lebte zwar im gleichen Haus mit ihnen, "aber er hat jeden Kontakt zu ihnen gemieden", erzählt Pastor Heine.

"Übergroße Freude" über das glückliche Ende

Seit Axel Hüls nach Ägypten geflohen ist, haben seine Eltern nichts mehr von ihm gehört. Alles was sie wissen, hat ihnen die Polizei gesagt. Die Mitglieder der Hermannsburger Großen Kreuzgemeinde sind bestürzt. Der Gottesdienst in der 1879 erbauten Großen Kreuzkirche mit ihren roten Ziegeln ist jeden Sonntag gut besucht. Gemeinsam haben Katja Hüls und ihre Schwiegereltern Sigrid und Friedrich Hüls einen Spendenaufruf gestartet.

"Die haben schon immer zu Katja gehalten", sagt Pastor Heine. Schon bei der Trennung haben sie sich auf die Seite der Mutter gestellt, konnten die Entwicklung des Sohnes nicht nachvollziehen. Zwischenzeitlich hatte Axel Hüls Hermannsburg verlassen. Als er wieder auftaucht, quartiert er sich in einer separaten Wohnung im Haus seiner Eltern ein. Offenbar hat er keine feste Arbeit - und somit Zeit, die Entführung genau zu planen.

Jetzt ist sie vorbei. Nach vier Monaten hat die Polizei nun Vater und Kinder in Ägypten aufgespürt. "Bei mir herrscht übergroße Freude", sagt ein anderer Pastor der Gemeinde einer Nachrichtenagentur. Für die Mutter sei der Halt der Gemeinde wichtig gewesen. "Für sie war es wichtig zu spüren: Da hoffen welche mit mir."

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