Brutale Randale in London:"Ich hoffe, einer von denen stirbt heute!"

Solch brachiale Gewalt hat Großbritannien lange nicht mehr gesehen. Hunderte Jugendliche haben im Londoner Problemviertel Tottenham eine Trauerdemonstration aufgemischt, stundenlang randaliert und geplündert, vor laufenden Kameras und zum Entsetzen des Landes - der Schaden ist gewaltig, Anwohner sagen: "Hier sieht es aus wie nach dem Blitzkrieg."

Hässliche Wohnblocks, Kinderarmut und viele Arbeitslose - Tottenham im Londoner Norden ist das, was man einen Problemstadtteil nennt. Seit den 70er Jahren ist die Broadwater Farm, ein riesiger Sozialwohnungsbau, ein Hort der Bandenkriminalität. In der Nähe kam es in der Nacht zum Sonntag zu den schwersten Krawallen, die Großbritannien seit Jahren erlebt hat.

Die zunächst friedlichen Proteste gegen den Tod des 29-Jährigen Mark Duggan bei einem Polizeieinsatz schlugen in Randale um. Sie dauerten bis in den Morgen hinein. Busse und Einsatzautos brannten aus, der Mob setzte Büros, Wohnungen, Läden und Supermärkte in Flammen. Polizisten mussten sich vor Brandsätzen, Pflastersteinen und Flaschen in Sicherheit bringen, 26 wurden verletzt. Handyläden wurden gestürmt, Fernsehgeschäfte leergeräumt und Geldautomaten aus der Wand gebrochen. Die Randalierer plünderten auch Banken und Verwaltungsgebäude. Auch in der Nacht zum Montag kam es wieder zu Zusammenstößen zwischen Jugendlichen und der Polizei. Mehrere Menschen wurden festgenommen.

Die Gewalttäter konnten stundenlang vor laufenden Fernsehkameras ihr Unwesen treiben - Polizei und Feuerwehr waren zunächst zu Statisten degradiert. Unbeteiligte mussten mit ihren Kindern in der Nacht wegen der Brände aus ihren Wohnungen flüchten. Die Polizei musste die Feuerwehr eskortieren, damit diese die Brände löschen konnte, und versuchte zum Teil zu Pferd die Unruhen in den Griff zu bekommen. Sie hatte aber Mühe, die Lage wieder unter Kontrolle zu bringen; noch am Sonntag gingen die Ordnungshüter vereinzelt gegen Plünderer vor. Die Straßen waren da schon gesäumt von niedergebrannten Autowracks und übersät mit Scherben eingeschlagener Fensterscheiben, Überresten von Brandbomben sowie Trümmern.

"Möchte Tottenham niederwalzen"

Polizei und Politiker sagten am Sonntag, was sie in solchen Fällen meistens sagen: "Eine kleine Minderheit" von Demonstranten sei es gewesen, die einen friedlichen Protest in ein gewalttätiges Chaos umschlagen ließ. "Die Verantwortlichen müssen zur Rechenschaft gezogen werden." Premierminister David Cameron verurteilte die Gewalt: Die Angriffe auf die Polizei und die Zerstörung von Eigentum seien durch nichts zu rechtfertigen, teilte sein Sprecher mit. Das Ausmaß der Gewalt sei nicht zu erwarten gewesen, sagte ein hoher Polizeioffizier entschuldigend.

Dass allerdings am Sonntag schon 42 der rund 300 Demonstranten festgenommen worden waren, spricht dafür, dass die Minderheit so klein nicht war. Zweifel wurden laut, ob die Polizei angesichts solcher Szenen im kommenden Jahr die Sicherheit bei den Olympischen Spielen in London gewährleisten kann. Schon nachdem kürzlich Proteste gegen die Sparbeschlüsse der Regierung außer Kontrolle gerieten, wurden der Metropolitan Police schwere Vorwürfe gemacht.

Gewaltbereite Aufrührer hatten am Samstagabend unter anderem über Twitter ganze Schlägertrupps zusammengetrommelt. Zu Gewalt und Plünderungen wurde aufgerufen: "Alles auf nach Tottenham, scheiß Polizei, ich hoffe, einer von denen stirbt heute", twitterte ein "English Frank". Ein anderer: "Möchte Tottenham niederwalzen und plündern. Will einen kostenlosen Fernseher haben..."

Die Polizei wird der Gang-Kriminalität nicht Herr

Den Wunsch erfüllten sich am Sonntagabend einige, und zwar skrupellos. Die Bereitschaft, Grenzen der Gesetze zu überschreiten, ist in sozialen Brennpunkten des Landes schon immer groß gewesen. Tottenham war in den 70er Jahren Ausgangspunkt für bewaffnete Jugendbanden, und schon 1985 kam es dort zu einem gewalttätigen Aufstand in der Broadwater Farm, bei dem ein Polizist ums Leben kam. Die Bandenkriege in dem Stadtteil sind blutig, und dem Problem ist die Polizei nie richtig Herr geworden. Im Jahr 2010 starben nach Angaben von Scotland Yard allein 18 unter 20-Jährige bei britischen Gang-Verbrechen. Die erwachsenen Opfer zählt die Polizei in ihrer Gang-Statistik nicht mit. Auch im laufenden Jahr geht das Schießen und Stechen weiter. Mindestens acht junge Menschen sind schon umgekommen, erst am Freitag starb ein 20-Jähriger im Londoner Süden.

Auch die Ausschreitungen vom frühen Sonntagmorgen haben mit bewaffneten Banden zu tun. Am Donnerstag hatte die Scotland-Yard-Sondereinheit für organisierte Kriminalität ("Operation Trident") bei einer Fahndung den vierfachen Familienvater Mark Duggan erschossen - er hatte nach Darstellung der Polizei zuvor seinerseits auf die Fahnder geschossen, ein Polizist kam demnach mit dem Leben davon, weil sein Funkgerät eine Kugel abfing.

"Wie kann man erwarten, dass wir stillhalten?"

Die Aufsichtsbehörde der Polizei hat eine Untersuchung eingeleitet, die genauen Umstände sind nicht geklärt. Der örtliche Polizeichef Adrian Hanstock bedauert Duggans Tod: Der Fall sei eine "Tragödie", sagte er. Doch gebe dies "einer kriminellen Minderheit" nicht das Recht, Geschäfte und Existenzen zu zerstören und ihre Nachbarschaft zu bestehlen.

"Die Menschen in Tottenham sind schlicht frustriert", sagte dagegen am Sonntag ein 49-Jähriger Bewohner des Problemviertels, der kürzlich seinen Job als Reinigungskraft verloren hat. Ein anderer: "Die Regierung vernachlässigt uns. Wie kann man eine Million Jugendliche arbeitslos machen und dann erwarten, dass wir stillhalten?" Ein Mann sagte, die Szenerie in dem Krawallgebiet erinnere ihn an die Bombenangriffe der Deutschen während des Zweiten Weltkriegs. "In unserem Viertel sieht es aus wie nach dem 'Blitz'. So viele Menschen hier haben alles verloren."

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