Angehende Köchin verliert Geruchssinn:Als die Welt nur noch schwarz-weiß roch

Kochen war ihre Leidenschaft, sie wollte es zum Beruf machen. Dann wurde Molly Birnbaum beim Joggen von einem Auto angefahren und verlor aufgrund schwerer Verletzungen ihren Geruchssinn. Die Geschichte einer Frau, in deren Welt es plötzlich keinen Duft und keinen Gestank mehr gab - und die es dennoch schaffte, mit dem Verlust zu leben.

Titus Arnu

Irgendetwas war mit diesem Apfelstreuselkuchen nicht in Ordnung. Er kam frisch aus dem Ofen und lag appetitlich auf dem Teller. Molly Birnbaum konnte den heißen Dampf in ihrem Gesicht spüren, als sie sich voller Vorfreude über den Kuchen beugte.

Riechen

Etwa ein bis zwei Prozent der Bevölkerung haben nach Schätzungen ihren Geruchssinn ganz oder teilweise verloren.

(Foto: iStockphoto)

Das Stück sah lecker aus wie immer, wenn Mollys Stiefmutter ihren Lieblingskuchen servierte, mit dicken, goldgelben Streuseln, hellgelben Apfelstücken und dunkelbraunem Rührteig.

"Alle am Tisch sagten Aaah und Oooh", erzählt Molly Birnbaum, "das riecht aber gut!" Da fiel es ihr auf: Sie konnte den Apfelkuchen nicht riechen.

Verwundert nahm sie die Gabel, probierte einen Bissen und stellte fest: Der Geschmack war anders als sonst. Sie konnte die Konsistenz der gebackenen Äpfel im Mund spüren, sie merkte, wie die knusprigen Streusel zwischen den Zähnen krachten, aber dem Kuchen fehlte etwas Entscheidendes: das Aroma. Molly Birnbaum hatte ihren Geruchssinn verloren, dadurch war auch ihr Geschmackssinn beeinträchtigt.

Einige Wochen zuvor war die damals 22-jährige Studentin beim Joggen von einem Auto angefahren worden. Sie erlitt schwere Verletzungen, die Hüfte war gebrochen, der Nacken geprellt, Sehnen waren gerissen. Sie hatte auch ein Schädel-Hirn-Trauma, dabei wurden, wie sich später herausstellte, Nervenbahnen abgetrennt, die für die Übertragung der Geruchsreize von der Nasenschleimhaut ins Gehirn zuständig sind.

In der Schwarz-Weiß-Welt

Birnbaum war von der Welt der Düfte abgeschnitten. "Es war für mich, als ob plötzlich jegliche Farbe aus der Welt verschwunden wäre", sagt sie. Ohne den Duft von frisch gebackenem Brot, von Rosen oder sogar von Müll habe sie sich gefühlt wie in einer Schwarz-Weiß-Welt.

Etwa ein bis zwei Prozent der Bevölkerung, schätzen Mediziner, haben ihren Geruchssinn vollständig oder teilweise verloren, etwa durch Tumore, Infektionen oder andere Krankheiten oder aber durch Unfälle. In den USA sind das immerhin drei Millionen Menschen. Bislang wissen die Wissenschaftler wenig darüber, ob und wie man den Geruchssinn wieder herstellen kann.

Molly Birnbaum traf die Erkenntnis, nicht mehr riechen zu können, besonders hart. Sie hatte Architektur und Kunstgeschichte in Boston studiert, ihre eigentliche Leidenschaft gehörte aber dem Kochen. Sie arbeitete vor dem Unfall in einem Restaurant, fing dort als Tellerwäscherin an und entwickelte sich schnell zur ambitionierten Köchin. Ihren Traum, die Leidenschaft für gutes Essen irgendwann zum Beruf zu machen, schien der Unfall zerstört zu haben.

Duftende Erinnerungen

Die Mediziner machten ihr keine großen Hoffnungen. Der Geruchssinn könne vielleicht teilweise zurückkommen, vielleicht aber auch nicht. Nur bei 20 Prozent der Patienten, hieß es, würden die Nervenbahnen wieder zusammenwachsen. Eigentlich kann man mit solchen Geruchs- und Geschmacksstörungen auch ein fast normales Leben führen.

Aber ohne die Fähigkeit, Gerüche zu erkennen, veränderte sich für Molly Birnbaum sehr viel. "Ich habe nicht mehr so gut gekocht", erzählt sie, "ich habe versucht, mich an Gerüche und Aromen zu erinnern, um sie zu rekonstruieren." Die Ergebnisse konnte sie selbst nicht überprüfen, denn sie schmeckte kaum etwas.

Aber durch die fehlenden Gerüche ging ihr noch mehr verloren. Düfte beeinflussen unser tägliches Leben mehr, als wir bewusst wahrnehmen. Im Umgang mit anderen Menschen etwa spielen sie eine große Rolle. Der Geruchssinn übernimmt auch wichtige Warnfunktionen - wenn es irgendwo nach Feuer riecht oder verdorbene Lebensmittel miefen. Molly Birnbaum hatte eine Zeitlang Angst, alleine zu Hause zu bleiben, weil sie auch nicht gemerkt hätte, wenn es ein Gasleck in ihrer Wohnung gegeben hätte.

Sie musste nicht nur ihren Plan aufgeben, eine Kochschule zu besuchen, sie stellte auch bald fest, dass jeder erdenkliche Lebensbereich mit Gerüchen verbunden ist - Molly Birnbaum konnte weder den Mann, in den sie sich verliebte, richtig riechen, noch den Wechsel der Jahreszeiten oder den Geruch des Hauses ihrer Mutter. Diese Eindrücke fehlten ihr so sehr, dass sie begann, aufzuschreiben, was sie vermisste. Daraus wurde ein sinnliches Buch, das nun auf Deutsch erscheint: "Der Geruch der Erinnerung".

Gerüche sind sehr schwer in Worte zu fassen. Wie beschreibt man das Aroma einer gekochten Miesmuschel? Ozeanisch? Herb? Fischig? Oder den Dampf einer von der Augustsonne aufgeheizten, asphaltierten Straße, auf die dicke Regentropfen eines Gewitters platschen? Und gibt es ein Wort für den Unterschied zwischen den ätherischen Ölen, die den Duft von Knoblauch, Zwiebeln und Lauch ausmachen?

Poesie für Gerüche

Molly Birnbaum, die nach dem Unfall von Boston nach New York gezogen war und dort an der Journalistenschule der Columbia University studierte, hat eine eigene, poetische Sprache für Gerüche gefunden, und sie hat für ihr Buch andere Betroffene und Experten getroffen wie den Neurologen Oliver Sacks, um dem Geheimnis der Düfte auf die Spur zu kommen.

Und sie beschreibt, wie nach und nach die Gerüche zurückkamen. Als sie mit ihrer Mutter einmal in der Küche stand und Kräuter hackte, hatte sie plötzlich einen Hauch Rosmarin in der Nase. "Dieser Sinneseindruck war so stark wie ein Lichtstrahl in der Dunkelheit", beschreibt sie diesen Moment.

Warum sich der Geruchssinn langsam erholte, konnte niemand genau erklären, aber es passierte. "Ich hatte vielleicht Glück, weil ich noch so jung war", sagt Molly Birnbaum. Genau sechs Jahre ist das jetzt her mit dem folgenschweren Unfall. Mittlerweile ist sie 28 Jahre alt, wohnt mit ihrem Lebensgefährten in Boston und arbeitet für den Kochbuchverlag "America's Test Kitchen".

Sie kann wieder fast alles so gut riechen wie vor dem Unfall, nur manchmal leidet sie unter Geruchsverwirrung. Eines Tages fuhr sie mit ihrer Mutter im Auto, die Fenster waren offen, und Molly schnupperte in den warmen Wind. Plötzlich fragte sie: "Was ist das, das riecht lecker! Wie frische Bratkartoffeln, oder?"

Ihre Mutter schüttelte angewidert den Kopf. "Nein, Skunk." Das Sekret des amerikanischen Stinktiers gehört zu den ekelhaftesten Düften der Welt. Es riecht nicht nach Bratkartoffeln, sondern nach einer Mischung aus Knoblauch, Schwefel und angebranntem Gummi.

Der Geruch der Erinnerung, Verlag Kein und Aber, 2011.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: