Zehn Jahre nach dem Fall Fritzl:"95 Prozent des Traumas sind verarbeitet"

File photo of the house of Austrian suspect Fritzl in Amstetten

Die Rückansicht des ehemaligen Wohnsitzes der Familie Fritzl.

(Foto: REUTERS)

Das Verlies, in dem Josef Fritzl seine Tochter 24 Jahre lang gefangen hielt, ist zehn Jahre nach der Entdeckung zubetoniert, das Haus gestrichen. Aber reicht das, um einem Ort seinen Schrecken zu nehmen? Ein Besuch.

Von Oliver Klasen, Amstetten

Die Fassade des Hauses, das der Gastwirt Herbert Houska aus Amstetten vor etwa anderthalb Jahren gekauft hat, ließ er in einer Farbe anstreichen, die er als "Apricot" beschreibt. Von der Rückseite des Grundstücks aus betrachtet, im Licht der Abendsonne und mit Blick auf die Dachterrasse im zweiten Stock könnte es auch ein Orangeton sein. Egal, alles besser als das bunkerhafte Steingrau von einst.

"160 000 Euro plus Steuern", sagt Houska, haben er und seine Frau bezahlt, ein halbes Jahr verhandelt, sogar vor einem Ethik-Ausschuss vorgesprochen, der die Ernsthaftigkeit ihres Interesses prüfte, und am Ende hatten sie Glück, weil Houskas Anwalt den Konkursverwalter kannte und diesem versicherte, dass "der Herbert" ein vertrauenswürdiger Geschäftsmann sei. Houska hat, so sieht er es selbst, mehr getan, als nur ein heruntergekommenes Haus zu renovieren. Mit dem neuen, frischen Anstrich will er seine Stadt von einer Last befreien - der Last, auf ewig die Stadt des Josef Fritzl zu sein.

Dessen altes Wohnhaus liegt nur wenige Hundert Meter vom Zentrum Amstettens entfernt. In der Nähe Einfamilienhäuser, kleine Handwerksbetriebe, ein Tattoo-Studio, ein türkischer Kulturverein, der Hundesalon "Quicky". Hier war es also.

Eine Familie oben, sichtbar für jeden, und eine unten, von der niemand etwas ahnte

Hier hat Josef Fritzl seine Tochter in einem zugemauerten Verlies gefangen gehalten, sie Tausende Male vergewaltigt, sieben Kinder mit ihr gezeugt, von denen eines kurz nach der Geburt starb. Drei der Kinder wohnten mit ihrer Mutter im Keller, die anderen oben bei den Großeltern, angeblich vor dem Haus abgelegt von der abtrünnigen Tochter - so erzählten es die Fritzls -, die von zu Hause weggelaufen war und sich einer ominösen Sekte angeschlossen hatte. 24 Jahre lang ging das so. Eine Familie oben, sichtbar für die Öffentlichkeit, und eine unten, von der niemand etwas ahnte. Erst als eines der im Keller gezeugten Kinder, eine damals 19 Jahre alte Frau, lebensgefährlich erkrankte und Fritzl einwilligte, sie ins Krankenhaus zu bringen, flog alles auf.

Genau zehn Jahre ist das jetzt her. Damals wurde das Fritzl-Haus von Reportern belagert. Paparazzi, so die Gerüchte, seien damals für Bilder der Kinder eine Million Euro angeboten worden. Journalisten versuchten, die Kombination des Zahlenschlosses herauszubekommen, mit der die "Inzest-Bestie" das Verlies gesichert hatte, und die britische Sun titelte: "Fritzl: Hitler hat mich dazu gebracht".

Renate Stalzer kann sich gut an jene Wochen erinnern, als die Stadt nicht mehr zur Ruhe kam. Sie führt seit 30 Jahren ein Geschäft für Handarbeiten schräg gegenüber dem Fritzl-Haus. Ein kleiner Verkaufsraum, hinten die Nähstube, Regale voller bunter Wollknäuel. "Früher sind fast täglich Leute in meinen Laden gekommen und haben gefragt: Na, wo ist das Haus denn jetzt? Inzwischen kommt kaum noch jemand", sagt sie. Fritzl sei oft an ihrem Geschäft vorbeigegangen, ein "ganz ein höflicher Mann" sei er gewesen, "immer Küss die Hand und Grüß Gott". Das ist nach allem, was Psychologen über sexuell abnorme Straftäter wissen, eine typische Charakterisierung.

Der Fall Fritzl schockte die Welt

Heute wohnen in dem Haus, dessen grauenvolle Geschichte vor zehn Jahren weltbekannt wurde, Mitarbeiter eines Gastronomiebetriebs und Tänzerinnen einer Bar.

(Foto: Matthias Röder/dpa)

Menschen, die solche Verbrechen begehen, haben die Fähigkeit, ihre Taten völlig abzuspalten von ihrem übrigen Leben, das, wie es dann oft heißt, in geordneten, bürgerlich-spießigen Mustern verläuft. "Fritzl war ein angenehmer Klient, korrekt bis ins Letzte, wenn er Ja sagte, meinte er Ja, und wenn er Nein sagte, meinte er Nein", sagt auch sein damaliger Anwalt.

Rudolf Mayer, 70, Strafverteidiger seit 38 Jahren, hat seine Kanzlei in einer Wiener Altbauwohnung unweit der Universität. In seinem Büro Aktenberge in roten Mappen, im Flur Ledersofas, ein expressionistisches Gemälde und gerahmte Zeitungsberichte über seine Fälle. Die "Eislady", die ihre Liebhaber ermordete und zerstückelte, ein Zuhälter, der eine Prostituierte mit Benzin übergoss und anzündete - und eben Fritzl. "Nicht, dass Sie meinen, ich habe das aus Eitelkeit hingehängt", sagt Mayer. Aber einmal habe ein Klient nach einem guten Erstgespräch gesagt, dass er sich einem anderen Anwalt anvertraut habe, weil dieser seine erfolgreich gelösten Fälle im Vorzimmer dokumentiert hatte. "Das hat mich geärgert, auch weil der Kollege nicht einen Bruchteil so viel Erfahrung hatte wie ich", sagt Mayer.

"Hängt das Schwein auf und den Anwalt gleich mit"

Inzest-Drama in Österreich - Luftaufnahme von Haus

Amstetten vor zehn Jahren: Der Fall des Elektrotechnikers Josef Fritzl wird bekannt.

(Foto: Markus Loitfelder/dpa)

Obwohl ihn Morde und Mörder, gerade die brutalsten und grausamsten unter ihnen, immer gereizt haben, würde er den Fall Fritzl rückblickend nicht mehr übernehmen. "Der Imageschaden war zu groß", sagt er. "Juristische Laien, und 95 Prozent der Menschen sind juristische Laien, unterscheiden nicht zwischen der Verteidigung im umgangssprachlichen Sinne und der Verteidigung als Anwalt." Hängt das Schwein auf und den Anwalt gleich mit, habe es damals geheißen.

Fritzl hat seine Taten im Prozess gestanden, auch die Schuld am Tod des Säuglings im Verlies, dessen Leiche er im Kamin verbrannt hatte, hat er auf sich genommen. Das Gericht verhängte die Höchststrafe, die Fritzl in der Justizanstalt Krems-Stein hinter fünf Meter hohen Mauern absitzt. Inzwischen ist er 83 Jahre alt und Medienberichten zufolge an Demenz erkrankt.

Auch in Fluterschen, Gimmlitztal und Höxter wurden Häuser zu Symbolen des Schreckens

Amstetten, 24 000 Einwohner, fünf Kirchen, ein Einkaufszentrum, McDonald's-Drive-in, Baumarkt-Drive-in, touristisch interessant und dennoch verkehrsgünstig gelegen an Autobahn und Bahnstrecke nach Wien, hat sich nicht ausgesucht, Schauplatz eines Verbrechens zu sein, das die ganze Welt bewegte. Über die Ereignisse im Fritzl-Haus redet man bis heute nur ungern. Die Stadtverwaltung lehnt Interviews dazu seit Jahren ab. Auch die Passanten auf dem Hauptplatz möchten lieber nichts sagen, genauso wie die Nachbarin, die ein paar Häuser entfernt wohnt und gerade damit beschäftigt ist, einen Busch in ihrem Vorgarten in Pilzform zu schneiden.

Amstetten ist nicht der einzige Ort mit einem solchen "Horrorhaus". Fluterschen in Rheinland-Pfalz, Gimmlitztal in Sachsen, Höxter in Nordrhein-Westfalen. Überall dort wurden Menschen gequält, misshandelt, vergewaltigt und getötet.

Jedes Mal wurde das Haus zum Symbol für die Tat eines Menschen, die sich mit menschlichen Maßstäben kaum begreifen lässt. Denn ein Haus kann man in Zeitungen und im Internet zeigen, im Gegensatz zu Fotos von Opfern oder Detailaufnahmen vom Tatort, die die Polizei oft unter Verschluss hält. Sehen sie das Gebäude von außen, läuft bei Lesern und Zuschauern im Gehirn ein Film ab, ein Horrorfilm, mit dem Unterschied, dass er nicht einem Drehbuch folgt und nach zwei Stunden vorbei ist. Doch, und vielleicht lässt sich das Schweigen der Amstettener so erklären, nie wurde derart viel analysiert, psychologisiert und spekuliert wie im Fall Fritzl.

Was sagt es über Österreich und seinen Umgang mit Schande, Scham und Sex aus, wenn sich innerhalb kurzer Zeit, im Fall Natascha Kampusch und im Fritzl-Haus, zwei scheinbar ähnlich gelagerte Taten ereignen? Was ist das für eine Gemeinschaft, die ein solches Verbrechen über Jahre nicht bemerkt?

Im Nachhinein fiel es leicht, Kritik zu üben am Jugendamt, das allzu gutgläubig war angesichts der rührenden Geschichte von den Fritzls und ihren Findelkindern. An Nachbarn und Verwandten, die nicht nachfragten, warum Fritzl jedem mit Gewalt drohte, der es wagen würde, seinen Keller zu betreten. Verlacht, so erzählt es Ladenbesitzerin Stalzer, wurde auch der Mieter in Fritzls Mehrfamilienhaus, der sich über seine Stromrechnung wunderte, die irrsinnig hoch gewesen sei, obwohl er nie zu Hause war. Nur das Gequatsche eines Alkoholikers, hieß es.

Das renovierte Haus von Amstetten sei nun von "schönen Damen" bewohnt, erzählt man

Amstetten, zehn Jahre danach. "Es dürfte so ziemlich das letzte Mal sein, dass diese Causa auf den Tisch kommt", sagt Gastwirt Houska, der das Haus nun besitzt. Das Kellerverlies hat der Konkursverwalter schon vor Jahren mit Beton verfüllen lassen, auf dass niemand die Intimsphäre der Opfer je würde verletzen können. Elisabeth Fritzl, die Tochter, inzwischen 52 Jahre alt, lebt mit ihren Kindern unter neuer Identität irgendwo in Österreich. Und das renovierte Haus ist jetzt von "schönen Damen" bevölkert, wie Renate Stalzer sie nennt.

Sie spielt darauf an, dass Houska neben seinem Brauereilokal auch eine Striptease-Bar betreibt, deren Angestellte zum Teil ihre Privatwohnungen in dem Mietshaus haben. "In zwei Jahren wird das wieder ein normales Haus sein", hatte Houska beim Kauf gesagt. Er glaubt, sie sind auf dem besten Wege dahin. Die Klingelschilder sind abgewetzt, den Autostellplatz für seine Mieter hinterm Haus will er noch fertigstellen. "95 Prozent des Traumas sind verarbeitet", sagt Houska. Er klingt, als rechne er tatsächlich damit, dass Amstetten irgendwann für die im ganzen Land schönste Birnbaumblüte berühmt ist.

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