Zweite Stammstrecke in München:Bauen oder beerdigen

Wie lange soll das Spiel noch weitergehen? Die Politik muss bei der zweiten S-Bahn-Stammstrecke endlich Klarheit schaffen: Entweder gibt es zusätzliche Mittel oder das Projekt wird endgültig zu den Akten gelegt - mit einschneidenden Folgen für die Stadt München und die Region.

Eine Analyse von Marco Völklein

Irgendwie können die Politiker froh sein, dass der Winter kein Winter war. Und der Frühling nahtlos in den Sommer überzugehen scheint. Andernfalls nämlich hätten am Mittwochabend Zehntausende Pendler bibbernd und frierend in der Kälte gestanden. Hätten geschimpft auf die Bahn und das vermaledeite Stellwerk am Ostbahnhof, das ihnen den Heimweg nun wieder versaut. Und sicher auch gewütet darüber, dass zwar seit Jahren diskutiert, aber so gut wie nichts gebaut und getan wird, um die Misere zu lösen.

Neueste Zahlen zeigen: Fast 850 000 Fahrgäste drängen zu Spitzenzeiten in die Münchner S-Bahn. Und in Zukunft werden es noch weit mehr werden, wenn München Jahr für Jahr um die Einwohnerzahl Erdings wächst. Und eine ebenso große Zahl in die Kommunen zwischen den bestehenden S-Bahn-Ästen zieht. Doch was tut die Politik? Nix. Oder, um es genauer zu sagen: Sie tut gar nix!

Das zeigte sich auch wieder diese Woche: Fast 2,6 Milliarden Euro wird der geplante zweite S-Bahn-Tunnel unter der Innenstadt kosten. Das belegen interne Papiere der Deutschen Bahn, die der SZ vorliegen. Damit ist das Bauwerk weit weg von den einst kalkulierten zwei Milliarden Euro. Mehr noch: Auch die als "Risikoreserve" eingeplanten 500 Millionen Euro sind verfrühstückt. Im Grunde stehen Planer wie Politiker jetzt wieder am Anfang. Bei null. Es darf somit die dringende Frage erlaubt sein: Was soll denn nun geschehen? Wie geht's denn nun weiter?

Doch Ministerpräsident Horst Seehofer, sein Verkehrsminister Joachim Herrmann und der Bahnvorstand Volker Kefer reagieren mit den drei großen A: Ausblenden. Abwarten. Aussitzen. Solange die ausgefertigten Baugenehmigungen nicht vorlägen, könne man nichts sagen zu den Kosten, argumentieren Herrmann und Kefer. Und Seehofer schiebt die Verantwortung gleich mal ganz nach Berlin ab, zu seinem Super-Verkehrsminister Alexander Dobrindt, der bislang auch nicht gerade durch große Tatkraft auf seinem neuen Politikfeld aufgefallen ist. Der müsse sagen, wie viel Risiko der Bund nun tragen wolle.

Man muss nur mal den Taschenrechner zücken

Wie lange soll das Spiel denn noch so weiter gehen? Man muss nur mal den Taschenrechner zücken und ein paar Zahlen zusammenzählen - und kann so feststellen, dass der bislang genannte Kostendeckel von zwei Milliarden Euro längst schon mit einem lauten Krachen davongeflogen ist. Wenn überhaupt, dann kann die Deutsche Bahn frühestens 2016 mit dem Bau des zweiten Tunnels beginnen. Bei sechs bis sieben Jahren veranschlagter Bauzeit (laut den eingereichten Planungsunterlagen) wird die Röhre allenfalls 2022 in Betrieb genommen - und nicht mehr, wie bislang der Kalkulation zugrunde gelegt, im Jahr 2020.

Diese zwei Jahre allerdings sind entscheidend: Denn damit landet man exakt bei den Kostensteigerungen, die die Bahn nun in ihrem internen Papier aufgezeigt hat. Das Projekt ist also, nach derzeitigem Stand, nicht mehr zu bezahlen. Die mühsam und in einem langen Gezerre zusammengekratzten Milliarden reichen schlicht nicht aus. Wie lange, fragt sich da der wütende Fahrgast, wollen uns Seehofer & Co eigentlich noch ihre ständigen Beruhigungspillen verabreichen?

Um es deutlich zu sagen: Der zweite Tunnel ist dringend notwendig für das Münchner S-Bahn-Netz. Nicht so sehr, damit im Störungsfall ein Bypass da ist. Das wichtigste Argument für die Röhre ist die Wachstumsperspektive: Nur mit einer zusätzlichen Ost-West-Verbindung lassen sich Expresszüge sowie zusätzliche Verbindungen aus dem weiteren Umland, aus Rosenheim, Ingolstadt oder Augsburg, in die Innenstadt führen. Und nur so lässt sich der Verkehrskollaps durch den Zuzug weiterer Menschen in den Großraum abwenden - übrigens auf der Schiene und auf der Straße. Das ewige Aufschieben und Aussitzen aber zeigt nur das Vollversagen der bayerischen Verkehrspolitiker in den vergangenen zehn, eher zwanzig Jahren.

Keine wirkliche Alternative

Noch sehr viel schlimmer aber ist, dass auch keine wirkliche Alternative vorliegt, die schnell umgesetzt werden könnte. Für die von den Tunnelgegnern immer wieder genannte Ertüchtigung des Bahn-Südrings liegen keine Pläne vor, die man mal eben aus der Schublade ziehen könnte. Mal ganz abgesehen davon, dass auch da die Kostenfrage alles andere als geklärt ist, und - anders als beim Tunnel - nicht nur Anwohner in Haidhausen, sondern auch in Giesing, Sendling und Laim, also quasi in der ganzen Stadt, auf die Barrikaden gehen dürften.

Auch kleinere Maßnahmen wie der Bau eines zusätzlichen Halts an der Poccistraße oder eine Verbindung vom Harras nach Laim ("Sendlinger Spange") lindern allenfalls die Auswirkungen bei Störungen wie am Mittwoch. Aber eine Perspektive für die nächsten 20, 30, 40 Jahre bringen auch sie nicht.

Politiker werden gewählt, um Entscheidungen zu treffen. Im Fall des zweiten Tunnels lautet die Frage also: Bauen oder beerdigen? Eine Antwort darauf ist längst überfällig, mit den nun bekannten Bahn-Zahlen stellt sie sich dringlicher denn je. Um den Tunnel doch noch zu realisieren, müssten Seehofer und Dobrindt weitere Millionen auftreiben. Und das müsste schnell gehen, denn weitere sechs oder gar zwölf Monate Gefeilsche erträgt niemand mehr. Wird die Röhre indes beerdigt, muss auch allen klar sein: Dann ist im Großraum München ein Verkehrskollaps unausweichlich.

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