Dezember 2016, Latisha Förster feiert das zweijährige Bestehen ihres Ladens in Obergiesing. Dutzende Nachbarn sind gekommen. Drinnen treten sie einander zwischen Kinderhosen und Pullis auf die Füße, draußen sitzen sie an Tischen und essen Kuchen. Die Erwachsenen trinken Glühwein, die Kinder Punsch. Sie singen Weihnachtslieder, die Stimmung ist ausgelassen. In Latisha Försters Kopf ist an jenem Tag immer wieder dieses eine Bild: sie selbst, vor 30 Jahren, ein Kind, das nichts hat, keine Eltern, keine Zukunft, erst recht keine schönen Kleider.
Dann schaut sie sich in ihrem Laden um, sie sieht all die hübschen Kindersachen und kann es kaum fassen. Dass all das Schlimme, das ihr zugestoßen ist, sich zum Guten gewandt hat. Dass sie in München ist, ein freier Mensch, dass sie einen eigenen kleinen Laden hat: Miramu heißt er, der Name setzt sich zusammen aus Silben der Vornamen ihrer Kinder, Milo und Saara, plus: Mutter.
1982 wird Latisha in Somalia geboren. Ihr Vater stirbt früh, sie wächst als behütetes Kind bei ihrer Mutter und deren zweitem Mann in der Hauptstadt Mogadischu auf. Als Latisha fünf Jahre alt ist, stirbt die Mutter bei der Geburt ihrer zweiten Tochter. Latisha wird von der Baby-Schwester getrennt und aufs Land zu einer Oma gebracht, die sie vorher nicht kannte. Es ist nicht wirklich ihre Großmutter, aber in ihrer Kultur wird so ziemlich jeder Bekannte als Onkel oder Tante oder Oma bezeichnet.
Die Oma schneidet ihr die langen Haare ab, damit sie sie nicht jeden Tag kämmen muss. Eine geflochtene Matte ist fortan ihr Bett. Das Mädchen wird zur Schlafwandlerin, morgens erwacht sie irgendwo im Dorf und läuft zurück zum Haus. Dass ihre Mutter tot ist, spürt sie, aber niemand spricht es ihr gegenüber aus. Schon damals liebt sie es, aus schönen Stoffen etwas zu machen. Tröstende Lieblingsbeschäftigung: aus Maiskolben Puppen basteln, mit langen Haaren und verschiedenen Outfits. Der Schneider des Dorfes hebt für sie immer seine Stoffreste auf.
Latisha, die Vollwaise, wird von einem Verwandten zum nächsten geschoben. Eine Weile lang kümmert sich der Bruder ihrer Mutter um sie, er ähnelt ihrer Mutter, sie mag ihn. Sie weiß nicht, was sein Beruf ist, aber er ist immer unterwegs. Mit einem Landrover fährt er durch Somalia, und ein paar Monate lang fährt sie mit. Doch das unstete Leben ist nichts für ein Kind, also wird sie zur Familie eines Onkels väterlicherseits weitergereicht. Das Mädchen soll ein festes Zuhause haben, zur Schule gehen. Der neue Onkel ist ein wohlhabender Mann, er besitzt mehrere Hotels und Restaurants. Es gibt Hausmädchen, die kochen und waschen. Latisha bekommt schicke Kleider, aber keine Liebe.
Als sich in Somalia der Bürgerkrieg anbahnt, fliegt der Onkel mit der Familie nach Deutschland, wo sie Asyl beantragen. Sie bekommen eine Wohnung in einem Ort bei Hannover, für Latisha beginnt eine glückliche Zeit. Die anderen Kinder bringen ihr die deutsche Sprache bei, und sie hat eine engagierte Lehrerin. In der vierten Klasse bekommt sie eine Zwei in Deutsch, und sie schreibt Gedichte.
Plötzlich hängt ihr Bild deutschlandweit an Bushaltestellen
Wieder ein Ortswechsel, München, Latisha kommt aufs Gymnasium. Onkel und Tante sind streng muslimisch, bald muss das Mädchen ein Kopftuch tragen, dazu lange Röcke. Sie gehorcht, dann geht sie aus dem Haus, biegt um die Ecke, legt das Kopftuch ab und tauscht den langen Rock gegen einen kurzen. Nicht, weil sie sexy aussehen will, sondern aus Trotz. Nachmittags rufen Jungs an und wollen mit ihr Fußball spielen. 80 Prozent der Schüler auf ihrem mathematischen Gymnasium sind Jungs, das gefällt dem Onkel und der Tante nicht.
Sie melden Latisha an einer anderen Schule an. Die hat unterdessen eine interessante Freizeitbeschäftigung entdeckt: Sie lässt Modefotos für Jugendzeitschriften von sich schießen. Natürlich ohne das Wissen von Onkel und Tante; eine somalische Nachbarin unterschreibt die Erlaubnis. Bis zu jenem Tag, an dem ein Foto von Latisha in Großformat an Bushaltestellen prangt; nicht nur in München, sondern im ganzen Land, wie sich herausstellt.
Onkel und Tante sind entsetzt. Der Onkel fliegt mit Latisha nach Somalia, Urlaub machen bei der Oma, sagt er. Doch die Reise wird kein Urlaub. Latisha ist 13 Jahre alt. In Mogadischu muss sie einen fremden Mann heiraten, einen zehn Jahre älteren Cousin. Latishas Kindheit, sie ist mit einem Schlag vorbei. Der Schule in München erzählt der Onkel, die Familie habe Urlaub in Saudi-Arabien gemacht, das Mädchen sei dort bei einer Tante geblieben.
Weltweit leben nach Angaben des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen (Unicef) mehr als 700 Millionen Frauen, die im Mädchenalter zwangsverheiratet wurden. 250 Millionen dieser Frauen waren zum Zeitpunkt der Eheschließung nicht älter als 15 Jahre. Die Vereinten Nationen bezeichnen Zwangsheiraten als eine "moderne Form der Sklaverei". Wie geht ein 13-jähriges Mädchen mit so etwas um? Zeitweise sei sie verzweifelt gewesen, sagt Latisha Förster heute. "Aber gleichzeitig wusste ich auch irgendwie, dass das nicht die Endstation sein kann, dass ich da eines Tages wieder rauskomme."
Es dauert nicht lange, bis Latisha schwanger wird. In der englischen Schule, die sie besucht, lernt sie Mitarbeiter von "Brot für die Welt" und der Caritas kennen und erzählt ihnen ihre Geschichte. Sie müsse Anzeige erstatten, drängen die Entwicklungshelfer, doch das will sie nicht. Sie bringt ihre Tochter Saara zur Welt. Als die Tochter fünf Monate alt ist, wird sie so krank, dass die Mutter mit ihr zur Behandlung nach Nairobi reisen muss, begleitet von Mitarbeitern der Hilfsorganisationen. Die unterstützen sie auch, als sie ein paar Monate später die Chance zur Flucht nach Deutschland ergreift. Am Flughafen sieht sie einen Mitarbeiter der Deutschen Botschaft, den sie kennt. Sie hat Angst, gleich könnte alles vorbei sein. Aber der Mann sagt: "Ich will nicht derjenige sein, der dich zurückhält." Er wünscht ihr Glück.
Zurück in Deutschland lebt sie zunächst wieder in München, bei ihrem Onkel und ihrer Tante, die sie zwangsverheiratet hatten. Sie haben Angst, dass die Geschichte an die Öffentlichkeit dringt. Das Mädchen Latisha, sie ist jetzt 15 Jahre alt, macht sich unterdessen über ganz andere Dinge Gedanken. Im Gymnasium in München hatte sie einst zu den Coolen gehört. Wie würden ihre ehemaligen Freunde reagieren, wenn sie sähen, dass sie plötzlich ein Kind hat? Die meiste Zeit über versteckt sie sich in der Wohnung.
Und wieder wird sie weitergeschoben, diesmal zu einem Onkel in den Niederlanden. Drei Jahre lebt sie mit Saara in Utrecht, Geld verdient sie mit dem Verpacken von Tulpen und Tomaten. Doch es zieht sie zurück nach München. Hier wohnt sie bei einem Cousin, sie jobbt, absolviert eine Weiterbildung zur Bürokauffrau und ergattert eine gute Stelle in einer Privatklinik, wo sie OP-Pläne zusammenstellt.
Sie verliebt sich. Mit 30, in einem Alter, das hierzulande als ein gutes Alter zum Mutterwerden angesehen wird, bringt Latisha ihren Sohn Milo zur Welt. In ihrer Freizeit sitzt sie oft an der Nähmaschine. Sie hatte immer diesen Traum: eine Schneiderlehre machen. Nun bringt sie sich das Nähen selbst bei. Die Kindersachen, die sie designt, verkauft sie zunächst über einen Laden in Haidhausen. Sie kommen gut an, Mütter und Kinder mögen die Kleider. 2014 bekommt sie ihre Chance: einen Laden in Obergiesing. Sie wagt den Sprung in die Selbstständigkeit, "ohne eine Ahnung zu haben, wie das funktioniert". Der Laden war ein Getränkeladen gewesen, "eine Bruchbude, total heruntergekommen". Sie saniert ihn von Grund auf, mit der Hilfe von Nachbarn, die Maurer sind, Maler und Schlosser, und faire Preise bieten.
Die Kindersachen, die sie verkauft, sind nachhaltig und fair produziert, ihre selbst designten sind zudem alle aus Bio-Baumwolle, das ist ihr wichtig. Am Nikolaustag 2014 eröffnet sie das Miramu. Seitdem steht sie in dem hellen, gemütlichen 30-Quadratmeter-Eckladen hinter dem Verkaufstresen, jeden Tag sieben Stunden. Es laufe gut, sagt sie, obwohl sie keine Werbung mache und keine gute Geschäftsfrau sei. Jeden Tag um halb drei sperrt sie den Laden für eine Stunde zu, dann holt sie Milo vom Kindergarten ab. Sie wohnt in einer Alleinerziehenden-WG mit einer anderen Mutter und deren achtjähriger Tochter, in der Nähe des Ladens. Milo, knapp vier Jahre alt, darf jetzt das Kind sein, das sie nie richtig sein konnte. Er spielt gern, dass er eine Katze ist. Sie erklärt ihm Dinge. Die Erwachsenen in ihrem Leben haben mit ihr nie über die wichtigen Dinge gesprochen.
Ihre Tochter Saara ist 20 Jahre alt, oft werden die beiden für Schwestern gehalten. Saara lebt jetzt in einer WG in Berlin und macht eine Ausbildung zur Erzieherin. Die Mutter ist stolz auf sie. Als Saara 14 war, hat sie ihr alles erzählt. Von Somalia. Von der Zwangsheirat. Von ihrer Odyssee.
Die meiste Zeit ist Latisha Förster ein fröhlicher, ausgeglichener Mensch. Ganz selten nur schleicht sich die Wut daher. Sie wird dann zornig, dass sie damals aus Deutschland herausgerissen, ihrer Möglichkeiten beraubt wurde. Sie hatte davon geträumt, Abitur zu machen, zu studieren - aber das war nicht mehr möglich. Noch hat sie den Traum vom Schulabschluss nicht beiseite gelegt. Wenn die Wut kommt, und wenn dann alles andere nichts hilft, geht sie laufen, "ich laufe vor der Wut davon", sagt Latisha Förster. Mit der Zwangsheirat könne sie abschließen, eine Therapie vor Jahren hat ihr beim Verarbeiten geholfen. Und ihre Tochter: "Mit Saara hatte ich zum ersten Mal eine richtige Familie. Jemanden, der mich so liebt, wie ich bin."
Vor ein paar Jahren hat sie ihren Onkel und ihre Tante noch einmal getroffen. Sie seien sich keiner Schuld bewusst, sagt Latisha Förster. "Sie sagen immer noch, sie wollten das Beste für mich." 20 Jahre lang hat sie ihre Geschichte weggedrückt. Aber sie ist ein Teil ihres Lebens, sie will sie jetzt erzählen. Sie sieht sich nicht als Opfer, sie will kein Mitleid. "Meine Geschichte ist traurig, aber ich bin es heute nicht mehr." Sie spricht leise, überlegt oft lange. Das Erzählen, sagt sie, ist ihre Art der Anzeige. Vielleicht ist es auch eine Befreiung.
Eigentlich ist alles gut. Ja: eigentlich...
Sie ist jetzt da, wo sie sein will, mit Menschen, die sie mag. In München, der Stadt, die sie Heimat nennt, die sie liebt, wegen der nahen Berge, der Sauberkeit, der Freundlichkeit der Menschen. Verwurzelter als sie, sagt sie, kann man in einer Stadt gar nicht sein. In den Cafés in ihrer Nachbarschaft kennt sie fast jeden. Seit sechs Jahren hat sie einen deutschen Pass. Sie verspürt Dankbarkeit, jeden Tag, sie freut sich über die kleinen Dinge des Lebens. "Eigentlich ist alles gut", sagt Latisha Förster.
Doch genau jetzt, wo sie auch auf dem Papier so deutsch ist wie sie sich ohnehin längst fühlt, gibt es auf einmal diese kleinen Irritationen im Alltag, sie erklären vielleicht das Wort "eigentlich" in dem Satz "alles ist gut". Sie habe zuvor in ihrem Leben nie Rassismus gespürt, sagt sie, aber neuerdings schauten die Leute sie anders an. "Bei manchen ruft allein die Tatsache, dass jemand anders aussieht, Wut hervor." Vor Kurzem hat ein fremder Mann sie auf der Straße beschimpft. Da kommt dieser Typ daher und pöbelt, sie gehöre nicht hier her. Aber Deutsch ist die Sprache, in der sie spricht, singt, denkt und träumt. Natürlich gehört sie hier her - wohin denn sonst?